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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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er habe das fatale Streichholz nicht angerissen. Zum ersten Mal im Leben hatte Fatima eine Schaumgummimatratze unter sich, wenn auch eine von Urin triefende. Sie hatte Plastikschläuche in der Nase, die allerdings nirgendwo hinführten. Sie hatte einen Infusionsbeutel und eine gebrauchte Spritze in der Vene, die Krankenschwester hielt es, wie sie sagte, für Verschwendung, jedes Mal eine frische Nadel zu nehmen. Sie hatte ein rostiges Metallgestell über dem Körper, damit das fleckenstarrende Laken nicht mit ihrer Haut verklebte. Aber die überraschendste von Fatimas vielen neuen Erfahrungen auf der Brandopferstation war, wie viele respektable Besucherinnen aus Annawadi herbeiströmten.
    Als erste war ihre ehemals beste Freundin Cynthia erschienen, der Fatima aber inzwischen die Schuld an ihrer jetzigen Lage gab. Cynthias Mann hatte einen Müllhandel betrieben, der mit dem Boom der Husainschen Geschäfte pleitegegangen war, und Cynthia hatte Fatima bekniet, irgendetwas Dramatisches zu inszenieren, das dieser Familie, die ihre Familie ausgestochen hatte, die Polizei auf den Hals hetzen könnte. Das war ein sehr schlechter Rat gewesen, wie Fatima nachträglich einsah, Cynthias mitgebrachter Bananen-Lassi schmeckte allerdings sehr gut.
    Auch Zehrunisa kam, Fatima sah sie eines Morgens kurz aus dem Augenwinkel vor der Tür hocken. Dann tauchten, angeführt von Asha, noch vier Nachbarinnen auf. Ashas Besuch empfand Fatima als Ehre. In Annawadi sahen die Shiv-Sena-Frauen grundsätzlich durch sie hindurch. Jetzt schenkte Asha ihr süßen Limonensaft und Kokosmilch ein und flüsterte ihr ins schwarzverkohlte Ohr.
    Sie ermahnte Fatima, Hunderte von Leuten auf dem Maidan hätten genau gesehen, was zwischen ihr und den Husains vorgefallen war, und sie solle keine Lügen erzählen, dass die sie geschlagen und angezündet hätten. »Was bringt das, so ein
ghamand,
so ein Ego zu haben?«, fragte Asha. »Deine Haut ist verbrannt, du hast diese Dummheit gemacht, und trotzdem ist dein Herz noch so voller Rachlust?«
    Asha hätte gern einen Waffenstillstand ausgehandelt, um die Polizei außen vor zu halten. Wenn Fatima zugäbe, dass die Husains sie nicht angegriffen hatten, würde Zehrunisa ihr ein Bett in einer Privatklinik bezahlen und Geld für Fatimas Töchter beiseitelegen. Fatima war klar, dass Asha plante, eine Provision von Zehrunisa für die gütliche Einigung zu kassieren. Sie war verbrannt, aber nicht hirnverbrannt. Aber es war zu spät, die Wahrheit zu sagen. Sie hatte ihre Aussage für eine förmliche Anzeige schon gemacht.
    Gleich nach der Aufnahme im Cooper Hospital hatte sie der Polizei erzählt, Karam, Abdul und Kehkashan hätten sie angezündet – daraufhin waren noch nach Mitternacht ein paar Beamte nach Annawadi geeilt und hatten Karam festgenommen, während Abdul sich zwischen seinem Müll versteckt hatte. Aber schon am nächsten Morgen war auf der Polizeiwache Sahar bekannt, dass Fatimas Geschichte nicht stimmte. Ihre kleine Tochter Noori hatte eine eindeutige Ausssage gemacht: Sie hatte durch ein Loch in der Familienhütte mit eigenen Augen gesehen, wie ihre Mutter sich angezündet hatte.
    Wenn man also den Fall weiter verfolgen und aus der Familie Husain Geld rausholen wollte, musste eine plausiblere Opferaussage her. Um Fatima dazu zu verhelfen, hatte die Polizei eine hübsche mollige Regierungsbeamtin ins Cooper Hospital geschickt. Sie trug eine goldgeränderte Designerbrille auf der Nase und hatte Fatimas Krankenbett gerade verlassen, bevor Asha eingetroffen war.
    Poornima Paikrao war Opferbeauftragte der Regierung von Maharashtra, Spezialgebiet Erstvernehmungen am Krankenbett. Mit freundlicher Stimme half sie Fatima beim Konstruieren einer neuen Darstellung der Ereignisse, die zu ihren Verbrennungen geführt hatten. Die Frau mit der Goldrandbrille reagierte nicht einmal respektlos, als Fatima gestand, dass sie das Mitgeschriebene weder lesen noch mit ihrem Namen unterschreiben konnte: Ein Daumenabdruck würde auch reichen.
    Die Opferbeauftragte erläuterte, dass es in Indien als schwere Straftat geahndet wurde, jemanden zum Selbstmord anzustacheln. Das Strafrecht war ein britisches Erbe, und die strengen Gesetze bezüglich Selbsttötungen sollten der hinduistischen Tradition der Witwenverbrennung ein Ende setzen. Eine Frau sollte von der Familie nicht mehr genötigt werden können, sich auf den Scheiterhaufen zu werfen, auf dem ihr verstorbener Mann verbrannt wurde – ein übliches Verfahren, mit dem

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