Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
Maharashtra hatte zugesagt, alle Familien, die seit 2000 illegal am Flughafen wohnten, in winzige Hochhauswohnungen umzusiedeln. Und die Annawadier rechneten sich aus, dass eine Hütte, die nicht ganz so leicht niederzuwalzen war, die Chancen vergrößerte, dass die Familie von der Umsiedlungsbehörde als rechtmäßiger Eigner von Flughafenboden anerkannt wurde. Und so steckten sie weiter Geld in etwas, das irgendwann zerstört werden würde.
Abdul dagegen hielt die ganze Renoviererei für unklug, aber aus Gründen, die nichts mit der Flughafenbehörde zu tun hatten. Er fand, genauso gut könnten die Husains gleich vom Hüttendach herunterposaunen: Hier lebt eine muslimische Familie, und die hat mehr Geld als die Hindus. Musste man unbedingt noch Öl ins Feuer gießen? Der neue Fliesenboden seiner Mutter verschwand doch sowieso bald wieder unter Müll.
Wenn er über das Familienvermögen verfügen dürfte, er würde einen iPod kaufen. Von den Dingern hatte ihm Mirchi erzählt. Abdul hatte zwar kaum Ahnung von Musik, aber die Idee hinter so einem iPod war faszinierend. Mit so einer kleinen Maschine brauchte man nur zu hören, was man wollte. Die blendete sämtliche Nachbarn einfach aus.
Das Fenster für den Dunstabzug war in einem Tag fertig. Am zweiten Tag machten die Kinder sich an den Fußboden, hackten die kaputten Steine weg und klopften den Sandboden glatt für die Fliesen. »
Keramik
fliesen«, schärfte Zehrunisa ihrem Mann ein. Karam fühlte sich gesund genug, sie persönlich kaufen zu gehen. Der zweijährige Lallu war traurig, dass er nicht mithacken und -klopfen durfte, und wienerte dem Vater die Schuhe für die bedeutende Expedition. Kurz nach Mittag steckte Karam zweitausend Rupien ein und machte sich auf den Weg zu einem kleinen Fliesenladen in Saki Naka. Abdul war froh, dass er weg war. Karam war Spezialist für Verspätungen, und so konnte er, Abdul, die Arbeit hoffentlich vor Einbruch der Dunkelheit schaffen.
»Ihr hämmert da viel zu laut rum! Ich hör mein Radio nicht mehr!«, kreischte Fatima kurz darauf von der anderen Seite der Wand. Die kleineren Husain-Söhne grinsten sich an. Dreimal hatte es schon kleine Reparaturen in der Hütte gegeben, und jedes Mal hatte Fatima einen ihrer berühmten Anfälle gekriegt.
»Wir müssen den Boden rausreißen, wir bauen eine Küche ein«, brüllte Zehrunisa zurück. »Ich fänd’s ja auch toll, wenn Fliesen und Arbeitsplatte von Zauberhand verlegt würden, aber so ist das nun mal nicht, also gibt’s eben heute ’n bisschen Krach.«
Abdul kümmerte sich nicht um den Schlagabtausch, er hatte andere Probleme. Diese Arbeitsplatte für seine Mutter war zum Verrücktwerden. Das graue Ding war fast anderthalb Meter breit und genauso uneben wie der Boden, und es schwankte bedrohlich auf den beiden Stützen, die er extra konstruiert hatte. In diesem bescheuerten Haus war aber auch gar nichts gerade. Es gab nur eine Möglichkeit, die Platte waagerecht und stabil zu halten: Man musste ein Stück aus der genauso unebenen Ziegelwand herausbrechen und die Platte da einzementieren.
Ashas Mann war heute zu verkatert. Ein anderer Nachbar bot seine Hilfe an, gegen Bezahlung im Voraus. Auch der Mann wirkte nicht sehr sicher auf den Beinen, aber Abdul ignorierte es. Gemeinsam machten sie sich daran, Ziegel aus der Wand zu schlagen. »Na, jetzt kriegen wir gleich richtig was zu hören von Einbein«, sagte Zehrunisa.
Dreißig Sekunden später fing Fatima an zu keifen. »Was macht ihr da mit meiner Wand?«
»Reg dich nicht auf, Fatima«, rief Zehrunisa zurück. »Wir bauen grad die Arbeitsplatte ein. Lass uns den Tag heute – wir wollen selbst fertig werden, bevor der Regen wieder losgeht.«
Abdul arbeitete still weiter. Für ihn ließen sich Menschen genauso in unterschiedliche Kategorien einteilen wie Müll. Fatima sah zwar irgendwie besonders aus, aber für ihn war sie ein Durchschnittsmensch. Tief im Innern ihres schlechten Charakters steckte vermutlich Neid, wie bei vielen schlechten Charakteren. Und tief im Innern des Neids steckte vielleicht eine Hoffnung – dass der Erfolg anderer Leute eines Tages auch ihr beschieden sein könnte. Seine Mutter behauptete zwar immer, früher, als in Annawadi noch alle mehr oder weniger im selben Elend gelebt hatten, seien die Ressentiments unter Nachbarn längst nicht so hochgekocht, aber Zehrunisa hatte bekanntermaßen eine sentimentale Beziehung zur Geschichte.
»Ihr Dreckschweine! Ihr reißt mir meine ganze Wand
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