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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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Gefühl, ihr Leben lang kotzen zu müssen, weil sie gesehen hatte, was sie gesehen hatte.
    »Wie komm ich denn ins Krankenhaus?«, wollte Fatima wissen. »Mein Mann ist nicht da!«
    »Man müsste eine Autorikscha organisieren und sie ins Cooper Hospital bringen. Aber die ganzen Idioten hier gaffen ja bloß – die stirbt uns noch hier vor der Nase.«
    »Aber wenn einer die da hinbringt, sagt die Polizei hinterher, der war das, der hat die angezündet.«
    »Dann soll doch Asha Einbein ins Krankenhaus bringen«, schlug jemand vor. »Die gehört zur Shiv Sena. Die kann die Polizei nicht verarschen.«
    Fatimas Blick fokussierte sich auf Asha. »Frau Lehrerin«, sagte sie, »wie soll ich denn in dem Zustand aufstehen und gehen?«
    »Ich bezahl dir die Autorikscha«, erwiderte Asha. »Aber auf mich warten Leute. Ich hab keine Zeit zum Mitfahren.«
    Sie lief zu ihrer Hütte, und die anderen Annawadier sahen hinter ihr her.
    »Ich hab angeboten, die Autorikscha zu bezahlen, wieso hätt’ ich auch noch mitfahren sollen?«, fragte Asha später ihren Mann. »Das war ein Streit unter diesen Müllmenschen, wer weiß, was passiert, wenn man sich da einmischt. Außerdem hätte Zehrunisa meine Hilfe auf der Polizeiwache annehmen sollen. Die kapiert einfach das Grundprinzip nicht: Es kostet später weniger, wenn man gleich zahlt. Man steckt Einbein ein bisschen was zu, so wie einer Bettlerin. Man beendet das Ganze, bevor es hysterische Ausmaße annimmt. Jetzt ist es ein Fall für die Polizei, und Zehrunisa wird einen Anwalt brauchen. Glaubt die denn, Anwälte machen erst mal ihre Arbeit, bevor sie Geld sehen wollen? Warten Hebammen etwa ab, ob man sie bezahlt? Eine Hebamme sackt ihr Geld ein, auch wenn das Baby stirbt. Aber mein Problem ist das nicht, Zehrunisa mit ihrer Familie und ihrem Drecksgeld.
Haram ka paisa.
«
    Sie lächelte. »Einbein müsste der Polizei bloß erzählen: ›Ich bin eine geborene Hindu, und diese Muslime haben mich verhöhnt und angezündet, weil ich Hindu bin.‹ Die Typen säßen für immer im Knast.«
    Es war jetzt acht Uhr, und der Himmel hing tief violett wie ein Bluterguss über dem Maidan. Alle hatten beschlossen, dass Fatimas Mann seine Frau ins Krankenhaus fahren sollte, wenn er vom Müllsortieren nach Hause kam.
    Die Erwachsenen zogen sich wieder zum Abendessen zurück, nur ein paar Jungen blieben da, neugierig, ob Fatima das Gesicht abfallen würde. Das war einer Frau mal passiert, die bei Asha ein Zimmer gemietet hatte. Ihr Mann hatte sie sitzengelassen, und sie hatte sich im Gegensatz zu Fatima richtig abgefackelt. Ihre Gesichtshaut war total verkohlt am Boden festgeklebt, und Rahul hatte behauptet, dass ihr der ganze Brustkorb irgendwie explodiert war und man bis durch zum Herzen gucken konnte.

7. Alles aus den Fugen
    W as noch übrig war von Fatimas Haaren, die sie im Nacken zusammengeschlungen hatte, bevor sie das Streichholz anriss, hing jetzt wieder lose herab. Ihr Gesicht war schwarz und glänzte, als hätte ein Maler, der eigentlich nur den Augen auf einer Kali-Statue göttlichen Schimmer verleihen sollte, sich nicht bremsen können und gleich die ganze Umgebung mitlackiert. Es gab zwar keinen Spiegel in der Station 10 für Brandopfer im Cooper Hospital, dem größten Krankenhaus für die armen Leute aus Mumbais westlichen Randbezirken, aber Fatima wusste auch ohne, dass sie größer geworden war. Das lag zum einen an den Schwellungen, aber das Feuer hatte ihr noch auf andere Weise mehr Gewicht verschafft.
    Sie selbst hatte, auf dem Rücken ihres spindeldürren Mannes hängend, gleich außerhalb von Annawadi dafür gesorgt, als jemand Bedeutendes wahrgenommen zu werden. »Was hab ich mir angetan!«, hatte sie mitleidigen Zuschauern beim Hyatt zugerufen. »Aber passiert ist passiert, und dafür werden die bezahlen!«
    Kein Autorikschafahrer war bereit, eine Frau in dem Zustand zu transportieren, sie könnte ja die Sitzbezüge ruinieren. Aber dann hatten sich drei junge Männer eingemischt und einem Fahrer so massiv mit dem Tod gedroht, dass er Fatima schließlich doch ins Krankenhaus fuhr.
    Auch im Cooper Hospital unter den fluoreszierenden, wie Pferdebremsen sirrenden Lichtröhren fühlte sich Fatima wie jemand, der zählt. Es stank in der kleinen Abteilung für Brandverletzungen zwar ekelhaft nach Wundverbänden, aber es war schön hier, verglichen mit den normalen Stationen, wo viele Patienten auf dem Boden lagen. Bei ihr im Zimmer lag nur noch eine andere Frau, deren Mann beteuerte,

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