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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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der Lobby an: »Ein Riesenfeuer kommt aufs Hotel zu!« Oder: »Ich glaube, es hat eine Explosion gegeben!« Und eine halbe Stunde später folgten die ersten Beschwerden über Kuhdungasche im Swimmingpool.
    Heute kam ein Feuer dazu, in Fatimas Hütte.
    Die achtjährige Noori wollte zum Essen nach Hause kommen, aber die Holztür ging nicht auf. Von drinnen dröhnte ein Liebeslied, also dachte Noori, ihre Mutter sei so ins Tanzen vertieft, dass sie die Zeit vergessen hatte. Sie lief zu Fatimas Freundin Cynthia. Aber auch Cynthia bekam die Tür nicht auf und hob Noori schließlich hoch an ein Loch unterm Hüttendach – Noori nannte es stolz ihr Fenster.
    »Kannst du was sehen, Noori?«
    »Sie kippt sich Petroleum über den Kopf.«
    »Fatima – nicht!«, schrie Cynthia, so laut sie konnte, um die Musik zu übertönen. Sekunden später wurde der Filmsong verschluckt von einem
Wuuusch,
einem kurzem Bumm und dem Schrei eines achtjährigen Mädchens: »Meine Mutter! Sie brennt!«
    Kehkashan schrie auf. Der Puffbesitzer schaffte es als Erster über den Maidan, drei Jungen kamen hinter ihm hergerannt, und alle warfen sich so lange mit voller Wucht gegen die Tür, bis sie endlich aufbrach. Fatima wälzte sich auf dem Boden und schlug um sich, von ihrer Haut stiegen Rauchfahnen hoch. Neben ihr, umgekippt, eine gelbe Plastikkanne für Petroleum und ein Wasserkessel. Sie hatte sich den Brennstoff zum Kochen über den Kopf geschüttet und ein Streichholz angezündet, und dann hatte sie die Flammen mit Wasser zu löschen versucht.
    »Rettet mich!«, schrie sie.
    Der Puffbesitzer war in heller Aufregung. Unten an Fatimas Rücken brannte es noch. Er schnappte eine Decke und erstickte die Flämmchen. Draußen vor der Hütte strömte mittlerweile eine Menschenmenge zusammen.
    »Den ganzen Tag machen diese Müllmoslems schon so ’n Krach mit ihrem Gezanke.«
    »Denkt die denn nicht mal an ihre Töchter, bevor die so was macht?«
    »Jetzt ist gut«, verkündete der Puffbesitzer und rollte ein paar Kochtöpfe beiseite. Mit denen hatte er zuerst auf Fatima eingehauen, um ganz schnell die Flammen zu ersticken. »Sie ist am Leben, kein Problem!«
    Er zog Fatima hoch. Aber kaum ließ er sie los, flutschte sie heulend wieder zu Boden.
    Die Zuschauer hatten den leeren Wasserkessel entdeckt.
    »Die ist doch wirklich bescheuert«, sagte ein alter Mann. »Wollte an sich rumzündeln und ’n bisschen Theater machen, und jetzt hat die sich schwer verbrannt.«
    »Ich hab das bloß wegen der Leute da gemacht«, schrie Fatima mit erstaunlich klarer Stimme. Alle wussten, welche Leute sie meinte.
    Kehkashan hörte kurz auf zu schluchzen, um ihre Brüder und ihren Vater in Marsch zu setzen: »Lauft! Los! Die hat vorhin gedroht, sie reitet uns wirklich in die Scheiße. Die erzählt womöglich demnächst auch noch, wir hätten sie angezündet!«
    »Ist jetzt ’n Fall für die Polizei – die sind erledigt«, sagte ein Nachbar und sah den Husain-Söhnen nach, die an der öffentlichen Toilette vorbei in Richtung des Hotels Leela mit seinen 600 -Euro-Suiten flitzten.
    »Wasser!«, flehte Fatima. Sie war rot und schwarz im Gesicht.
    »Aber wenn die stirbt und man gibt ihr gerade Wasser, dann fährt ihr Geist in einen«, gab jemand zu bedenken.
    »Geister von Frauen sind die schlimmsten. Die lassen einem jahrelang keine Ruhe.«
    Ein junges Mädchen namens Priya brachte schließlich Wasser. Priya war ein Unglückswurm, eins der allerärmsten Mädchen in Annawadi, sie half Fatima manchmal beim Kochen und Kinderhüten, im Tausch gegen Essen. Angeblich hatte sie schon zwei Geister im Leib.
    »Ihr Dummköpfe. Wasser nach Verbrennungen, das soll gar nicht gut sein«, sagte plötzlich eine neue Stimme. Resoluter als die anderen.
    Sie gehörte Asha, die hinter der Menge aufgetaucht war.
    Alle drehten sich um. »Dann sag du ihr, sie soll nicht trinken, Asha! Halt sie ab davon!«
    »Soll ich’s ihr vielleicht wegreißen?«, fragte Asha. »Wenn das jetzt ihre letzten Minuten sind? Ich hab keine Lust, von ’ner Sterbenden verflucht zu werden. Wenn sie genau dabei stirbt?«
    Manju kam aus der Hütte. Aber Asha verscheuchte sie. Nur Manjus beste Freundin Meena schaffte es näher heran. Was sie sah, war unbeschreiblich. Fatima krümmte sich in einem braunen Zweiteiler auf dem Boden, das pinkrosa Blumenmuster vorn und hinten war zum größten Teil verkohlt. Wo vorher Blüten gewesen waren, hingen jetzt Hautfetzen. Meena stürzte davon und übergab sich, sie hatte das

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