Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
die Vertreter der amerikanischen Universal-Filmparks die Chancen für ihren geplanten Durchbruch auf dem indischen Markt optimistisch. »Prozentual gesehen hat Indien zwar nur sehr wenige reiche Leute zu bieten, aber achten Sie mal auf die absoluten Zahlen. Die sind so groß, das kann sich rechnen. Kommen Sie mir nicht mit Disneyland – wir sind die Spitzenmarke. Spiderman, Die Mumie, auch als Achterbahn, neuerdings machen wir gute Geschäfte mit Harry Potter. Ich höre andauernd, ich soll mich erst mal bei Disney World umsehen, was die Konkurrenz so macht, aber das geht gar nicht. Ich bin viel zu sehr Rivale – von mir kriegt der Gegner nicht einen Cent.«
Die Bahre wurde sicher über eine chaotische Kreuzung gebracht, vorbei an der Marol-Gemeindeschule, durch die engen Gassen zweier Slums, bis sie endlich ihr Ziel erreichte, eine grüne Moschee mit Wasserflecken und einem Papayabaum auf einem Friedhof voller Tauben.
Fatima kam in dieselbe Erde wie ihre ertrunkene zweijährige Tochter. Ihre beiden anderen Töchter kamen ein paar Tage später in die Obhut von Schwester Paulette.
Fatimas Mann liebte seine Töchter und trauerte, als er sie weggab. Aber er arbeitete vierzehn Stunden am Tag als Müllsortierer weit weg, und in Annawadi machten sich trunksüchtige Einwohner öfter mal über kleine Mädchen her, die allein zu Haus waren.
8. Der Master
J etzt schüttete es wieder vom Himmel, ein prasselnder Regen. In den höheren Regionen der liquiden Stadt schwärmten reiche Leute vom romantischen Monsun: von schwülem Sex, Frust-Shopping und heißen süßen Jalebis, mit denen der Juli sachte in den August überging. In Annawadi kroch der Klärteich vorwärts wie ein Lebewesen. Kranke Wasserbüffel auf Futtersuche schnüffelten sich durch Berge von nassem, völlig wertlosem Müll und schissen die Ergebnisse des miesen Angebots mit einer Rasanz wieder aus, gegen die die Kanalisation des Slums nicht ankam. Die Menschen, die sich genauso elend fühlten, stampften sich den Matsch von den Füßen und sagten: »Mein Magen brennt wie Feuer, meine Brust auch.« Und: »Ging einfach die Beine runter, die ganze Nacht lang.« Die Klärteichfrösche quakten mitfühlend, aber bis in die Hütten drang kein Froschgesang. Der Regen donnerte auf die Blechdächer, als ginge eine Horde Slum-Zebras auf der Flucht über sie hinweg.
Irgendjemand hatte Sunil mal erzählt, dass Regenfluten alles Gemeine aus den Menschen spülten. Zumindest wuschen sie die Streifen von den Zebras. Wochenlang waren die beiden Tiere als fahlgelbe Klepper mit herausstehenden Knochen enttarnt, bis Robert, der Slumlord im Sinkflug, ihnen mit Garnier Nutrisse Hair Color neue schwarze Streifen färbte.
Der Müllstrom floss während des Monsuns dünner als in anderen Jahreszeiten, auf dem Flughafen herrschte weniger Betrieb und auf vielen Baustellen Stillstand. Den Betonsims über dem Mithi hatten die Regenstürme leer gefegt. Sunil fand ein bisschen Trost bei einer Entdeckung hinter einer der Mauern entlang der Airport Road. Auf einem dschungelfeuchten Fleckchen Erde prangten sechs Lotusblüten. Er behielt sie für sich, aus Angst, die anderen Jungen könnten sie abreißen und zu verkaufen versuchen.
Manchmal, wenn er durch die Straßen in der Umgebung seiner geheimen Lotusblüten streifte, auf der Jagd nach kaputten Flipflops, Plastikflaschen und anderem herumschwimmenden Zeug, kam er an Zehrunisa vorbei. Sie war ganz gegen ihre Gewohnheit in eine Burka gehüllt und kam immer wieder aus dem Tritt, weil sie zu schnell durch die riesigen Matschpfützen zu kommen versuchte, die sich überall auf den Straßen gebildet hatten.
Andere Müllsucher tuschelten, sie habe den Raum hinten in der Familienhütte verkauft, um den Anwalt bezahlen zu können. Sunil hoffte, dass sie Abdul schnell aus der Haft frei bekam, egal was sie auch tat, denn Mirchi war völlig untauglich als Ersatzmann an den Waagen. Er hatte keinen Schimmer, was irgendetwas wert war, und wenn Sunil und die anderen ihm helfen wollten, machte er sich über ihre Eiterbeulen lustig.
Wenn es um ihre Beulen und den Wert ihrer Ware ging, verstanden Müllsucher jedoch keinen Spaß. Entsprechend gut lief das Geschäft beim Konkurrenten der Husains, dem Tamilen mit der Videospielbude.
Zehrunisa merkte, dass Mirchis Unerfahrenheit ihrem Geschäft schadete, aber sie war viel zu sehr mit den Straforganen beschäftigt, um wieder selbst mit den Müllsuchern zu handeln. Sie war auch zu beschäftigt, um die kleineren
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