Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
konnte sie nicht mehr schlafen. Sie hatte auch davor schon nicht mehr geschlafen. Sie wusste mit Mühe und Not, vor welchem Knast sie gerade stand. Mit dem Regen war ein grauweißer, schlieriger Nebel gekommen. Lallu zeterte: »Ich sag dem Hund da, der soll dich beißen!« Fahrradjungen schwirrten vorbei, brachten Mittagsimbisse in die Büros. Der Rettungswagen der
Saifee Ambulance Day and Night
schien einen Platten zu haben.
Und am anderen Ende brüllte immer noch ein Polizist.
»Ja, aber – nein,
sa’ab
«, sagte sie aufgeregt zu Thokale. »Ich bin nicht zu Hause. Ich bin im Krankenhaus. Wer erzählt denn so was? Nein,
sa’ab,
nein. Die erzählen Ihnen Märchen, das ist alles Hetze, damit Sie sauer auf mich sind. Ich bin im Krankenhaus, und ich bin sehr krank. Bitte, hören Sie mir doch zu: Dieser ganze Druck wegen meinem Sohn, meiner Tochter. Nein, Sir, ich stehe in Ihrer Schuld. Wer so was sagt, muss verrückt sein. Nein, Sir, ich hab gar nichts erzählt.«
Bei Sonnenuntergang, wenn die Wolken sich zuzogen und der Monsunhimmel aussah wie rot verschnürt, wollte Zehrunisa zur Polizeistation gehen und den Inspector auf Knien um Vergebung bitten. Nur Allah wusste, was einem wütenden Polizisten alles einfiel, um ihrer Familie noch weiter zu schaden.
Bis zum Prozess konnte es Jahre dauern, und was sie für den Verkauf des hinteren Raums der Hütte bekommen hatte, war längst weg. Was Mirchi mit Müll verdiente, reichte für kaum mehr als Essen. Sollte sie jetzt den Lagerverschlag verkaufen? Seit ihr Mann im Gefängnis saß, war sie diejenige, die alles zu entscheiden hatte, aber bisher hatte sie anscheinend jedes Mal die falsche Entscheidung getroffen. Vielleicht war sie doch die Null, für die ihr Mann sie hielt und die sie partout nicht sein wollte.
Sie hätte Asha das Geld geben sollen, um Fatima ruhigzustellen, gleich damals auf der Wache. Sie hätte dieser Opferbeauftragten Geld geben sollen, als die ihr von Zeugenaussagen erzählt hatte, die sie in der Hand habe. Sie hätte den Mund halten und schweigen sollen über das Geld, für das Thokale die Prügeleien beenden und ihre Tochter erst später in Haft nehmen wollte. Nur bei einer Entscheidung hatte sie ein sicheres Gefühl, und das war die, die sie für Abdul getroffen hatte.
Die Polizei hatte Abdul bei den Ermittlungen als Erwachsenen behandelt, denn er sah erwachsen aus, und Zehrunisa besaß keine Geburtsurkunde. Infolgedessen sollte er die U-Haft in der Arthur Road absitzen, wie sein Vater.
Zehrunisa wusste selbst nicht, wie alt Abdul war. Vor dem Brand hatte sie immer siebzehn gesagt, wenn jemand fragte, aber er hätte ebenso gut schon siebenundzwanzig sein können. Man verliert leicht den Überblick über das Alter seiner Kinder, wenn man täglich darum kämpft, dass sie nicht verhungern, und das musste Zehrunisa, als ihre Kinder klein waren, wie viele andere Mütter in Annawadi auch, deren Kinder inzwischen Teenager waren.
Asha hatte einfach Geburtsdaten für ihre Kinder erfunden und unterstrich deren Gültigkeit seitdem mit Partys und Kuchen. Manju hatte im Januar ihren achtzehnten Geburtstag gefeiert, und zwar zum zweiten Mal – einer von Ashas kleinen Tricks, den Brautpreis ihrer Tochter hoch zu halten. Um Geburtstagspartys hatte Abdul nie gebeten. Er wollte einfach ein Geburtsdatum, vor allem das Jahr. Seine Mutter konnte ihm nur sagen, was sie selbst noch wusste:
»Vor deiner Geburt hatte Saddam Hussein irgendwo ganz viele Menschen umgebracht. Ein Jahr vorher vielleicht, oder zwei, ich weiß nicht. Ach ja, und du hast mich richtig zusammengetreten, als du in mir drin warst, schlimmer als alle deine Geschwister danach, und ich hab so oft geschrien deswegen, dass die Leute gesagt haben, ich hätte ’n zweiten Saddam im Bauch. Aber du warst so winzig, als du rausgekommen bist, wie ein Rattenjunges, jedenfalls kein Saddam. Wir haben trotzdem extra einen friedlichen Namen für dich genommen, aus Angst, dass das vielleicht stimmte, was die Leute sagten. Abdul Hakim, das ist einer, der andere allein durch sein Verständnis heilen kann. Ich war so froh, als du ’n bisschen älter warst und so gar nichts von Saddam hattest.«
Hätte Abdul etwas mehr von Saddam, wäre ihr die Vorstellung, dass er jetzt mit Auftragsmördern, Pädophilen und Mafiabossen in diesem Zentralgefängnis sitzen sollte, etwas weniger zuwider. Aber so fürchtete sie, dass er in der Arthur Road schikaniert, womöglich sogar vergewaltigt würde, bloß weil sie einen
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