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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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Annawadi, so gesehen gibt’s keinen Grund, ihn zu schlagen«, teilte er seinem Kollegen mit dem Lederriemen mit. Sie ließen von Abdul ab, und weder er noch sein Vater wurde noch einmal geschlagen. Auch Abduls Fesseln kamen ab.
    Abdul grübelte, was diese Schonung zu bedeuten hatte. Ashas Sohn Rahul war Mirchis bester Freund. Vielleicht hatte er seine Mutter überredet, Abdul zu schützen. Oder sie selbst hatte ihn über die Jahre beim Müllsortieren auf dem Maidan beobachtet und vielleicht gesehen, dass er ein schwer arbeitender Junge war, ein stiller Verlierer, der solche Brutalität nicht verdient hatte.
    Abduls Vater fiel ein klügeres Argument ein. Wahrscheinlich war alles bloß Schau für Vater und Sohn, denn sie würden Zehrunisa garantiert weitersagen, dass Asha angerufen hatte. Asha und Thokale machten oft gemeinsame Sache. Und Thokale demonstrierte jetzt, dass es tatsächlich in seiner Macht lag, Abdul und seinen Vater vor schweren Verletzungen im Polizeigewahrsam zu bewahren – wie er Zehrunisa zugesagt hatte, im Tausch gegen Geld. Und Asha selbst konnte den Husains mit dieser Schau demonstrieren, dass sie auf der Polizeiwache Sahar durchaus Einfluss hatte, was wiederum die Chancen erhöhte, dass sie ihren Anteil am Gewinn bekam.
    Aber Karam wollte seinem traumatisierten Sohn jetzt keine Lektion über die Ökonomie der Strafverschonung erteilen. Der Junge sollte ruhig weiter glauben, dass jemand seine fieberhafte Schufterei zum Wohl seiner Familie bemerkt und beschlossen hatte, ihn aus lauter Freundlichkeit zu verteidigen.
     
    Vier Tage nach dem Brand kam bei Sonnenuntergang ein muslimischer Fakir mit einem Pfauenfederbesen nach Annawadi und bot an, Segen zu spenden und böse Geister zu vertreiben. Fakire kamen selten nach Annawadi, es gab hier zu wenige Muslime, die Klientel, die am ehesten Geld für derlei überirdische Dienstleistungen auszugeben bereit war. Kehkashan sprang auf, als sie den alten Mann sah. Zehrunisa hatte zwar aus Angst vor all dem, was einer schönen jungen Frau auf einer Polizeiwache passieren konnte, Inspector Thokale auch schon angefleht, ihre Tochter so lange wie möglich von der Haft zu verschonen, aber vor kurzem hatte Kehkashan doch eine Aufforderung bekommen, auf der Wache zu erscheinen. Sie konnte den Segen eines Fakirs dringend brauchen.
    Kehkashan zog einen Zehn-Rupien-Schein aus dem BH und schloss die Augen, als der Fakir mit dem Besen ihren Kopf berührte. Sie war froh, dass er sie nicht damit schlug, manche Fakire taten das, wenn sie einen
jhaaad-phoonk
zelebrierten. Hoffentlich bedeutete das, dass er keine über ihr schwebenden teuflischen Geister spürte und sich nicht bloß irgendeine kundenfreundliche neumodische Technik zugelegt hatte. Danach saß sie ruhig da, damit der Segen besser durch ihren ganzen Körper fließen konnte, und der Fakir ging eine Tür weiter.
    Fatimas Mann stürmte mit wüstem Blick heraus. »Hast du keine Hände? Hast du keine Beine? Ausgerechnet bei mir kommst du betteln? In Gottes Namen! Geh arbeiten, such dir ’n Job!«
    Der Fakir wandte den Blick gen Himmel, befingerte die goldenen Zari-Fäden in seiner Kurtatasche und wich zurück.
    Jetzt war Kehkashan außer sich. »Allah! Einen Fakir abweisen, seinen Fluch auf sich ziehen?« Fatimas Mann hatte das Unheil regelrecht eingeladen, so wie er mit dem Fakir geredet hatte, und das Unheil, das jetzt höchstwahrscheinlich über ihn kam, zog bestimmt bald den Ruin der Husains nach sich.
    »Was ist denn mit dem Mann los?«, wollte der Fakir wissen.
    »Seine Frau hat sich angezündet«, sagte Kehkashan leise.
    »Und wann ist sie gestorben?«
    »Nein! Nein!«, schrie Kehkashan auf. »Bete, dass sie weiterlebt, sonst kommen wir in furchtbare Schwierigkeiten.«
    Fatimas Tochter Noori schmiegte sich an Kehkashan. Die Kleine hing an ihr, seit sie ihre Mutter brennen gesehen hatte. »Ich spiele heute einen Jungen«, sagte sie, »ich spreche auch wie ein Junge.«
    »Genau wie Tabu«, antwortete Kehkashan abwesend, »meine kleine Schwester will auch immer nur Jungssachen anziehen, sonst heult sie los.« Kehkashan war fest entschlossen, nicht selbst loszuheulen. Sie stand auf und strich sich die Kleider glatt. »Hol Reis, damit ich ihn putzen kann«, sagte sie zu Mirchi. »Und wer ist dran mit Wasserholen?«
    Lallu, der Kleinste, war inzwischen alt genug, um wie seine Mutter pöbeln zu können. »Ich will sofort Essen, sonst kratz ich dir die Augen aus!« Und Kehkashans jüngste Schwester geriet total

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