Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
Kinder zu baden und zu füttern. Auch für sie war jetzt Mirchi verantwortlich, denn Zehrunisa suchte nach Unterstützung und musste sich dafür Verwandten zu Füßen werfen, die in verschiedenen Slums über die ganze regengebeutelte Stadt verstreut lebten. »Bitte, könntet ihr die Kaution aufbringen, damit mein kranker Mann, mein Sohn und meine Tochter aus dem Knast kommen?«
Das bedeutete eine Stunde gurrende Komplimente und Entschuldigungsfloskeln in jeder einzelnen Hütte, und auf zur nächsten demütigenden Aufwartung. Nur einer ihrer Bettelbesuche war schnell vorbei gewesen. In Saki Naka war sie praktisch durch den halben Slum geschwommen, in dieser verdammten Burka, um die Hütte von Abduls ehemals zukünftiger Braut zu erreichen. Der Vater des Mädchens hatte sie nur angeguckt, als hätte sie den ganzen Morgen in der örtlichen Schnapsdestille gehockt, und das war’s.
Das Problem war, dass Zehrunisa keine Sicherheiten für eine Kaution bieten konnte. Mirchi hatte, weil sie selbst nicht lesen konnte, alle Papiere durchgesehen, die ihr Mann in einer grauen Plastikschachtel aufbewahrte, zusammen mit ein paar Gedichten von Iqbal und einem schlüpfrigen Taschenbuchkrimi in Urdu. Er hatte auch tatsächlich Belege für jedes der fünf Besitztümer ausgegraben, die das Glück der Familie gewendet hatten. Die Schubkarre, mit der sein Vater den Müll direkt zu den Recyclingfabriken hatte bringen, also zum Aufkäufer von Müllsuchergut hatte aufsteigen können. Die Familienhütte, einem Zuwanderer abgekauft, der mit Mumbai fertig war. Den Lagerraum neben der Hütte, dank dem man den Verkauf der Ware so lange aufschieben konnte, bis die Marktpreise wieder stiegen. Die dreirädrige Klapperkiste mit Ladefläche, mit der sich viel mehr transportieren ließ als mit der Schubkarre. Die Anzahlung auf das Grundstück in Vasai. Aber sämtliche Belege waren auf Karam Husain ausgestellt.
»Beruhig dich, Mutter, mir geht’s hier gut«, log Kehkashan, als Zehrunisa sie besuchte, um ihr zu erklären, warum sie keine Kaution stellen konnte. Kehkashan saß jetzt im Frauenflügel des Gefängnisses in Byculla, weit im Süden der Altstadt vom Mumbai.
Karam reagierte weniger verständnisvoll. Er saß im Zentralgefängnis in der Arthur Road, dem größten und berüchtigtsten Knast von Mumbai, ebenfalls in der Altstadt. Bis sie ihn endlich sehen durfte, hatte sie obendrein vier Stunden Schlange gestanden und schon weit vor dem Eingang Wachleute und Beamte geschmiert. Hinter diesen Mauern saßen viermal so viele Insassen wie offiziell zugelassen.
»Ich bin verzweifelt«, teilte ihr Mann ihr mit. Seine Zelle war so überfüllt, dass niemand Platz zum Hinlegen hatte. Karam bekam keine Luft in der Menschenmenge. Er bekam auch das Essen nicht runter. Er schrie sie an, weil sie mit Fatima Streit angefangen hatte, dann schrie er sie an, weil sie ihn nicht hier rausholte. Als ob sie nicht alles versuchte. Als ob nicht er der Idiot war, der Fatima Schläge angedroht hatte. Als ob nicht er persönlich den Namen seiner Frau auf den Familiendokumenten weggelassen hatte.
Voller Zorn auf ihren Mann kam sie aus dem Gefängnis, aber er hielt nicht lange an. Allein der Name Arthur Road Jail machte jedem empfindsamen Menschen in Mumbai Angst, selbst Zehrunisa, die sich im Augenblick nun wirklich keine Empfindlichkeit leisten konnte. Ihr Mann saß wegen eines Streits in der Arthur Road ein und sah womöglich zehn Jahren Haft für ein Kapitalverbrechen entgegen – auf einen solchen Eventualfall waren sie beide nicht vorbereitet gewesen.
Eines Morgens stand sie vor dem Gefängnistor im trüben Platzregen, und Lallu zeterte, weil er wegen der Burka nicht an ihre Brust kam. Sie schob ihn auf den anderen Arm, denn das Handy ihres Mannes, das jetzt in ihrer Obhut war, klingelte: Es war Inspector Thokale, ihr einziger Verbündeter in der Polizeiwache Sahar, und er war noch aufgebrachter als Lallu. Von wem hatten die Leute in Annawadi erfahren, dass er sich seine Hilfe bei dem Fall von ihr hatte bezahlen lassen?
Woher sollte Zehrunisa das wissen? Sie war in den Wochen nach den Festnahmen nur halb von Sinnen durch die Gegend gewankt und hatte mit allen möglichen Leuten über sonst was geredet. Hatte ihren Sohn schreien hören, wenn er auf der Wache verprügelt wurde. Hatte ihre feine zarte Tochter in den Knast gehen sehen, in Begleitung von Polizisten – in diesem Augenblick hatte Zehrunisa nur ein Wort im Kopf gehabt:
Qayamat.
Weltuntergang.
Danach
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