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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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Streit vom Zaun gebrochen hatte. Ihr fiel nur eine Möglichkeit ein, das zu verhindern: Sie musste jemanden bezahlen, der eine brauchbare Geburtsurkunde fabrizieren konnte, mit der Abdul unters Jugendstrafrecht fiel.
    Sie ging über den Maidan zur Hütte des Puffbesitzers. Der hatte schon alle möglichen Verfahren gehabt, wegen Drogenhandel, Zuhälterei, Raub und sonst was, aber nur zweimal im Gefängnis gesessen. Der müsste doch eigentlich wissen, wen man jetzt am besten bestach.
    Der Puffbesitzer gab sofort zu, dass so etwas zu seinen Kompetenzen zählte, und hätte im Tausch gegen eine gewisse finanzielle Anerkennung auch nur zu gern geholfen. Aber leider gehörten Geburtsurkunden nicht in sein Repertoire.
    Wer könnte sonst noch wissen, wen man für so eine Urkunde bestechen musste und wie? Natürlich: die Polizei von Sahar. Erst jetzt fiel ihr auf, dass einer der Constables dort schon seit Tagen Andeutungen fallenließ.
    Auf seinen Rat hin machte sie sich auf zur Marol-Gemeindeschule, auf diesem Umweg floss ihr Geld in des Constables Taschen. Und Zehrunisa konnte mit dem Gewünschten nach Hause gehen: einem gefälschten Auszug aus dem Schulregister, laut dem der ehemalige Schüler Abdul Hakim Husain sechzehn Jahre alt war. Jetzt konnte ihr Sohn, der kaum je ein Kind gewesen war, wenigstens strafrechtlich wie eins behandelt werden.
     
    Die Jugendstrafanstalt von Mumbai lag in Dongri, über zwanzig Kilometer entfernt von Annawadi ganz im Süden der Altstadt, noch hinter Byculla. Die erste Etappe dahin hatte Abdul eingeklemmt zwischen zwei Dutzend anderen Jugendlichen in einem Polizeitransporter hinter sich gebracht. Nach dem Zwischenstopp in einem Gericht in Bandra, wo ihm amtlich bescheinigt wurde, dass er noch im Jugendalter war, ging es nur in Begleitung einer gelangweilten Frau in Zivil im Taxi weiter bis nach Dongri. Über ihre Schulter hinweg verfolgte Abdul das abendliche Treiben auf den Straßen eines blühenden Viertels der muslimischen Mittelschicht.
    Zur einen Seite einer dunkelgrünen Moschee lagen Läden, und das Geschäft brummte trotz des Regens. Ein Halal-Fleischer. Ein muslimischer Möbelfritze. Drogerie Nazir. Die Habib-Klinik. Küchenläden, in denen Schöpfkellen an Haken baumelten. Ein Restaurant mit einer knallgelben Tür. Masten mit zerfledderten Reklamewimpeln für Examenstrainingskurse und aufstrebende muslimische Politiker. In einem Kiosk verkaufte ein Mann Windrädchen, und gleich darauf war das Straßenleben verglommen.
    Eine kolossale moosbewachsene Steinmauer zog sich um einen ganzen Gebäudeblock herum. Die Vorderfront hatte nur einen Durchbruch, ein Eisentor. Der Eingang zur Jugendstrafanstalt Dongri war merkwürdig niedrig – Kindergröße, vermutete Abdul.
    Er hätte, statt sich da durchzubücken, einfach weglaufen können, seine Begleiterin schien mit den Gedanken woanders zu sein und hielt ihn nur locker an der Hand. Aber er ging durch dieses Tor und weiter durch einen dämmerigen Gang mit einem Hinduschrein in der Wand. Am Ende des Durchgangs stand er zu seiner Überraschung vor einem schönen Innenhof mit einer Palme.
    Die Jugendstrafanstalt war ein Sammelsurium aus stattlichen Sandsteingebäuden, Anfang des neunzehnten Jahrhunderts von den Briten errichtet, und neueren Ergänzungsgebäuden, Mitteldingern aus Flachbau und Baracke. Zu Kolonialzeiten waren hier indische und britische Verbrecher gehenkt und die blutigen Überreste in den Kellern gestapelt worden oder so, erfuhr Abdul gleich bei der Ankunft von anderen jugendlichen Insassen. Und angeblich stiegen die Geister der Gehenkten nachts daraus hervor. Wie die meisten Jungen aus Annawadi hatte auch Abdul immer Angst vor Geistern gehabt, trotzdem machte ihm das Gerede hier nichts aus. Die Schrecken, die ihm die Lebenden zugefügt hatten, schienen seine Furcht vor den Toten gedämpft zu haben.
    Er bekam seine Kleidung abgenommen und eine zu große Uniform ausgehändigt, dann wurde er in eins der barackenartigen Gebäude gebracht und in einen Raum gesperrt, in dem sich schon andere Neuankömmlinge drängten. Die Fenster waren verriegelt, die Luft von Mundgeruch und Körperschweiß verpestet, nach einer Stunde hatte Abdul das Gefühl zu ersticken und krause Ideen im Kopf.
Wenn ich hier noch eine Minute drinbleibe, schlacht ich ’n kleinen Jungen und ess den auf.
Hinterher wunderte er sich über solche Gedanken. Als endlich irgendwann die Türen aufgingen und Rotis verteilt wurden, war ihm so übel, dass er nichts

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