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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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sauer und schickt die Ermittler zu lauter Leuten, die gegen uns aussagen, weil sie uns eine reinwürgen wollen. Wenn wir in unserm Dorf wären, bei unsern Leuten, dann könnten wir drauf hoffen, dass Zeugen uns beistehen und die Wahrheit sagen. Aber in dieser Stadt hier sind wir doch ganz allein.«
    Ein leichter Dauerregen setzte ein, und Abdul fiel eines Abends, als er ihn auf das Dach der Polizeistation tropfen hörte, ein Actionfilm ein, den er mal mit Kalu gesehen hatte.
Zinda.
Am Leben. Der Held hatte jahrelang im Gefängnis gesessen, ohne zu wissen, wofür, und war darüber langsam verrückt geworden.
    Kalu hatte das Ende am besten gefunden, als der Typ ausbrach, herausfand, wieso er in den Knast gekommen war, und sämtliche Verantwortlichen mit dem Hammer erschlug, obwohl er selbst ein Messer im Rücken stecken hatte. In der Szene, die Abdul jetzt wieder einfiel, saß der Typ noch in der Zelle, aber er hatte in jahrelanger Arbeit ein kleines Loch in die Ziegelwand gekratzt, und die Wand war deutlich robuster als die zwischen den Husains und Fatima. Dann hatte er seine Hand durchgesteckt und sich irre über den Regen auf der Haut gefreut.
    Zu Hause hatte sich Abdul kaum je Gedanken über seine Zukunft gemacht, abgesehen von vagen Phantasien über ein Leben in Vasai und konkreteren Sorgen um seine Gesundheit. Ob seine Lungen auch mal so versagten wie die von seinem Vater? Stand seine rechte Schulter schon krumm nach vorn? Kam ja oft vor, wenn man ein Jahrzehnt lang über Müll gebeugt hing.
    Abdul hatte ein Leben als Müllsortierer früh für sich akzeptiert und hielt sich deshalb für eine andere Art Mensch als Mirchi oder Manju, das bestbegabte Mädchen von Annawadi, oder die anderen Slum-Jugendlichen, die etwas werden wollten. Abduls Zukunft sah in etwa so aus wie seine Vergangenheit, nur mit mehr Geld. Der Wutausbruch einer Nachbarin mit weniger Geld war in seiner Kalkulation nicht vorgekommen.
    Er wusste nicht, ob es stimmte, was seine Mutter über frühere Zeiten erzählte, dass die friedlicher gewesen seien, weil arme Leute das von ihren jeweiligen Göttern auf ihre Stirn geschriebene Schicksal akzeptierten und zum Ausgleich auch miteinander freundlicher umgingen. Er wusste nur, dass Zehrunisa sich nicht gerade verzehrte nach Elend in netter Gesellschaft. Sie hatte erbärmliche Zustände erlebt, sie hasste die Erinnerung daran, und sie hatte ihren Sohn für den rücksichtslosen Konkurrenzkampf der Gegenwart erzogen. In Zeiten wie diesen stiegen nun mal die einen auf und stürzten die anderen ab, und sie hatte ihm seit frühester Kindheit beigebracht, dass er zu den Aufsteigern zu gehören hatte. Sie hatten einiges verloren beim letzten Hochwasser, aber das hatten viele andere in Annawadi auch. In Abdul keimte allerdings der Verdacht, dass seine Mutter ihn nicht darauf vorbereitet hatte, wie es sich anfühlt, allein abzustürzen.
    Was für ein Tag war heute? Wie lange war er schon hier? Die Prügeleien gingen weiter, während irgendwo nebenan Telefone klingelten, da musste eine Art Kontrollraum sein, schloss er aus den plärrenden Funkgeräuschen. Alle Polizisten sprachen Marathi, und er konzentrierte sich darauf, ihren Gesprächen zu folgen. Solange er versuchte dahinterzukommen, was die Polizisten redeten, war er wenigstens mit etwas anderem beschäftigt als mit Grübeleien über das unleugbare Problem, dass er unschuldig in einer Zelle saß und verprügelt wurde.
    Die Polizisten hatten es auf seine Hände abgesehen, den Teil seines Körpers, von dem sein Lebensunterhalt abhing. Kleine Hände mit herausstehenden Venen, orangeroten Rostflecken und den berufstypischen vernarbten Schnittwunden, schwere Verletzungen hatte er bisher nur einmal gehabt – von einer Fahrradspeiche, die sich ihm tief in eine Hand gebohrt hatte.
    Seine Gedanken zerfaserten. Die Telefongespräche in dem Raum nebenan verschwammen. Erst später, als die Stimmen wieder Gestalt annahmen, wurde ihm klar, dass ein Polizist über ihn redete.
    »Die diese Krüppelfrau angegriffen haben … Nicht der Vater, der Junge … Aber wo, hier prügelt doch niemand, Asha … Nein, auf gar keinen Fall.«
    Also war die Asha aus Annawadi am andern Ende. Jetzt bekam es Abdul mit der Angst. Ihr Anruf hatte bestimmt nur den Zweck, die Prügel zu verschärfen, damit seine Mutter ihr endlich Geld gab.
    Plötzlich stand Inspector Thokale in der inoffiziellen Zelle. »Asha sagt, der Junge hat niemanden angezündet und macht auch sonst keinerlei Ärger in

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