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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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aus den Fugen, weil sie von der Schachtel Parle-G-Kekse nicht so viel abgekriegt hatte, wie ihr zustand.
    Als der Fakir seine Dienste erledigt hatte und sich auf den Weg aus Annawadi machte, spielten sich in der Hütte der Husains ganz ähnliche Szenen ab wie hinter den anderen Türen, an denen er vorbeikam. Ganz langsam breitete die Nacht ihren Schleier über den Slum, Abendessen wurde zusammengekratzt, Schimpfkanonaden losgelassen, Tränen weggeküsst. Am nächsten Morgen kam Fatima nach Hause, in einer weißen Blechkiste.
     
    Sie war an einer Infektion gestorben. Ein Arzt frisierte den Abschlussbericht so, dass das Krankenhaus nicht belangt werden konnte. Aus den 35  Prozent verbrannter Körperoberfläche bei Fatimas Einlieferung wurden 95  Prozent zum Zeitpunkt ihres Todes – ohne Aussicht auf Heilung, unheilbarer Fall. »Grünlich-gelbliche Beläge und Schorfbildung an sämtlichen Brandwunden mit jauchigem Geruch«, stand auf dem Totenschein. »Blutstau in Hirn und Lunge. Herz blass.« Fatimas Akte wurde mit einem roten Bändchen verschlossen und ins Krankenblattarchiv der Pathologie geschickt, wo verwilderte Hunde zwischen Türmen aus Aktenmappen auf dem Boden schliefen und Vogelgesang durchs Fenster hereindrang. Draußen hatte eine Schar gescheckter Tauben von einer Palme Besitz ergriffen und überbot sich gegenseitig mit lockenden
Rucke-di-guus.
    Im Tod war Fatima wieder klein geworden – sie füllte nicht mal die halbe Kiste. Ganz Annawadi kam aus den Hütten, so wie damals, als sie gebrannt hatte, aber diesmal blieben die Zuschauer auf Abstand. Es wurde still im Slum und noch stiller, als Zehrunisa und Kehkashan mit verhüllten Köpfen aus ihrer Hütte traten, um den Leichnam zu waschen.
    Das wichtige Ritual, den toten Körper von seinen Sünden zu reinigen, dürfen nur muslimische Frauen verrichten. Und Zehrunisa sagte immer, Muslime müssen zusammenhalten, was auch geschieht, in Freud und Leid. Traditionsgemäß musste Fatima gesagt bekommen, dass sie jetzt tot war und bald beerdigt würde, also tunkten Mutter und Tochter Husain Baumwolllappen in eine Schüssel Wasser mit Kampferöl und murmelten die vorgeschriebenen Formeln. Dann nahmen sie das weiße Musselintuch von Fatima und fingen an, ihren Körper zu säubern. Vom einen langen über das zweite halbe Bein arbeiteten sie sich aufwärts bis zu dem schwarz glänzenden Gesicht. »Macht ihr den Mund zu«, sagte jemand, »sonst kommen Fliegen rein.«
    Als Fatima sauber und sündenfrei war, schloss Kehkashan die Kiste und legte die beste Bettdecke der Husains, den Baumwollquilt mit den kleinen blauen Karos, über die ganze Bahre. Bald würde Fatima zu einem muslimischen Friedhof anderthalb Kilometer entfernt gebracht werden und Kehkashan in den Knast gehen. Es würde eine offizielle Strafermittlung geben, sehr wahrscheinlich aufgrund von Fatimas zweiter Aussage, laut der die Husains sie angeblich geschlagen und in den Selbstmord getrieben hatten und Abdul der Gewalttätigste sein sollte. Zehrunisa hatte von einem Polizisten auf der Wache erfahren, dass es noch einmal fünftausend Rupien kostete, die Anzeige auch nur lesen zu dürfen.
    Zehrunisa kam schluchzend zurück zur Hütte, sie hielt noch immer den Lappen umklammert, mit dem sie die Nachbarin gewaschen hatte. Aber sie weinte nicht über das Schicksal ihres Mannes, ihres Sohnes und ihrer Tochter, auch nicht über das dichte Geflecht der Korruption, durch das sie sich manövrieren musste, und nicht über das abgrundtief böse Justizsystem, mit dessen Hilfe die Allerelendesten versuchten, sich an den ein kleines bisschen weniger Elenden zu rächen. Zehrunisa weinte über etwas von überschaubarer Größe – den Verlust dieser wunderschönen Bettdecke, das Abschiedsgeschenk für eine Frau, die ihren Körper als Waffe gegen ihre Nachbarn eingesetzt hatte.
    Auf den muslimischen Friedhof durften nur Männer. Mirchi ging neben Fatimas Mann, der die Bahre an einer der vier Stützen trug. Als die Metallkiste mit dem Kampferdunst die Airport Road erreichte, war dort Hauptverkehrszeit.
    Die Prozession der paar schmerzgebeugten Slumbewohner wirkte zwischen den überdimensionierten Auswüchsen der Airport City noch kleiner. Gigantische Reklametafeln kündeten vom baldigen Erscheinen der indischen Version des
People
-Magazins. Aus der Hyatt-Auffahrt rollten schwarze Limousinen mit Chauffeur – im Fond Teilnehmer eines Pharmakongresses, die eine Pause für eine Stadtrundfahrt nutzten. Im Hotel Leela sahen

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