Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
stöbernden Eseln hindurch und vorbei an ein paar Häusern, die aus Matsch und Mist gebaut und in einem Grün gestrichen worden waren, das es auf den Feldern längst nicht mehr gab, ging es einen steilen Pfad hinauf zum Tempel von Hanuman, dem Affengott.
Vorher hatte Manju dem Bräutigam das Gesicht gepudert und mit einer Zahnbürste Glitzer um seine Augen herum getupft. Aber selbst in dem dunklen Tempel ohne elektrisches Licht spürte sie, dass nicht der Puderzucker-Bräutigam die Blicke auf sich zog, sondern sie. Ein Großstadtmädchen, das aufs College ging, das war ein Knaller im Dorf. Auf wen wohl Ashas Wahl als Ehemann für sie fiel? Für manche Kunbi-Männer wäre Manju doch bestimmt viel zu gebildet, um sich unterzuordnen, andere wären zu arm, um den Ansprüchen ihrer Mutter zu genügen.
Manju versuchte vergeblich, aus Ashas Winkelzügen während der trüben Hochzeitszeremonie am nächsten Tag schlau zu werden, aber kurz danach stand ein junger Soldat vor dem Haus, in dem die Familie untergebracht war. Asha ging vor die Tür und sprach unter vier Augen mit ihm. Ab und zu hörte Manju ihr heiseres Lachen.
In Annawadi hatte sie vor kurzem beobachtet, wie ihre Mutter über die Verheiratung eines schüchternen Nachbarmädchens mit einem Jungen aus einem anderen Slum verhandelt hatte. Es war aufregend gewesen, einen kleinen Einblick in so eine Verhandlung zu bekommen, so würde eines Tages auch über ihre Zukunft entschieden werden. Die Sache war anscheinend gut gelaufen, bis das Mädchen den Kopf gehoben hatte. »Nicht schön!«, hatten die Angehörigen des Jungen protestiert und dann Asha bezichtigt, ihnen nur Zeit gestohlen zu haben.
Seit jenem Nachmittag mit dem barschen pragmatischen Ton war Manju gewappnet, und als Asha jetzt rief, sie solle Tee nach draußen bringen, strich sie sich die Haare glatt, schlug die Augen nieder und versuchte, im Herzen eiskalt zu bleiben. Der Soldat nahm seine Teetasse entgegen, starrte sie sehr lange an und sagte: »Stell dich nicht in die Sonne – du wirst zu schwarz.«
Er sah nicht schlecht aus, trotz des Schnauzbarts, und Manju hatte die Augen auch nicht so niedergeschlagen, dass ihr entgangen wäre, wie seine Blicke an ihrem Körper hinunterglitten. Es fühlte sich an wie Angefasstwerden. Manchmal war sie irritiert, wie sehr sie sich wünschte, begehrt zu werden, sie war ganz dicht dran an diesem Gefühl der Bereitschaft für die Ehe, für Sex. Aber wenn Asha irgendeine Ehe arrangierte, die das Urteil lebenslänglich Vidarbha einschloss, würde sie abhauen.
Eines Abends, bevor die Familie nach Annawadi zurückfuhr, erzählte Anil von einem Traum, den er geträumt hatte. Er kam gerade im Spurt vom Feld zurück, und Manju, Rahul und Ganesh liefen neben ihm her. »Wir wollten alle abhauen, und unsere Mütter waren wütend. Sie haben gesagt: ›Wenn ihr jetzt geht, dürft ihr nie wieder zurück.‹ Und wir: ›Dann ruft uns auch nicht zurück! Wir wollen nämlich gar nicht zurück! Wir gehen dahin, wo es besser ist!‹ Wir haben uns krankgelacht beim Abhauen.«
Zurück in Annawadi, verbannte Asha die schäbige Fatima-Geschichte aus ihrem Kopf und verwehrte der durchgedrehten Zehrunisa den Zugang. Sie wollte den Rest der Monsunzeit lieber auf ihr eigenes Fortkommen verwenden. Unter anderem musste sie dringend den einen oder anderen Fortbildungskurs absolvieren, sonst war sie bald den Teilzeitjob als Vorschullehrerin der Marol-Gemeindeschule los. Die Regierung von Maharashtra war der Ansicht, dass die Schulen des Bundesstaats besser werden müssten, und setzte etliche Lehrer unter Druck, nachweislich etwas für ihre eigene Bildung zu tun. Zum Glück hatte der Professor der Yashawantrao Chavan Maharashtra Open University den Lehrern in seinem Kurs zugesagt, vor den schriftlichen und mündlichen Abschlussprüfungen die richtigen Antworten zu verteilen.
Aber Asha wollte ohnehin nicht ewig eine schlecht bezahlte Vorschullehrerin bleiben, sondern Politikerin werden. Zu diesem Zweck, überlegte sie, würde sie ihre Slumgewohnheiten ablegen müssen, so wie sie damals ihre Dorfgewohnheiten abgelegt hatte. Es war eine Art zweite Einwanderung – eine klassenmäßige. Der Schlüssel dazu, erklärte sie Manju, war, »erstklassige Leute unter die Lupe zu nehmen. Du guckst dir genau an, wie die wohnen, wie die gehen, was die machen. Und genauso machst du’s dann auch.«
Asha hatte ihre Tochter zu der Überzeugung erzogen, anders als die anderen Kinder in Annawadi zu sein,
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