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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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allerdings hauptsächlich dazu verwendet, neues Geld in die politische Elite fließen zu lassen. Mumbaier Parteipolitiker und Stadtverwalter ließen Verwandte und Freunde alle möglichen gemeinnützigen Vereine gründen, über die das Geld aus Delhi in ihre eigenen Taschen fließen sollte. Ob die so geförderten Schulen dann wirklich funktionierten, interessierte sie alle herzlich wenig.
    Manjus Schule geriet unter die Fittiche der katholischen Hilfsorganisation REAP (Reach Education Action Program). Dieses Aktionsprogramm für Bildungszugang nahm seine Verpflichtungen gegenüber armen Schülern zwar tatsächlich ernster als manche anderen angeblichen Non-Profit-Projekte. Nur weigerte sich der Pfarrer, der es leitete, beharrlich, irgendjemandem »Provisionen« zu zahlen, und so wurden die REAP -Schulen in Mumbai nach und nach wieder dichtgemacht. Manjus Schule in Annawadi war eine der letzten noch existierenden, und etwa einmal im Monat kam ein Supervisor vom REAP , setzte sich mit in den Unterricht und überprüfte Lehrstoff- und Teilnehmerlisten. Ihm war nicht entgangen, dass in der angeblich von Asha betriebenen Schule in Wirklichkeit Manju den Unterricht erteilte, aber er ging darüber hinweg, denn bei ihr lernten die Kinder immerhin was.
    Eines Nachmittags nahmen die Schüler, die alle Marathi sprachen, die englischen Begriffe für Wagen, Knie, Spiegel, Fisch und Hände durch. »Was macht man denn so mit seinen Händen?«, fragte Manju.
    »Essen!«
    »Wäsche waschen!«
    »Wasser pumpen!«
    »Tanzen!«
    »Fäuste, um jemandem zu zeigen, dass er gleich eine gelangt kriegt –«
    Alle Köpfe flogen herum. Asha stand in der Tür, zornbebend.
    »Wie dringlich ist diese Lernerei?«, schnauzte sie Manju an. »Was ist wichtiger? Die Kinder hier oder mein Haushalt?«
    Schmuddelige Kinder lagen auf dem Fußboden. Schulhefte flogen durch die Gegend. Die ganze Szenerie passte überhaupt nicht zur Wohnung einer Frau, die beinah Slumlord war und Bezirksrätin in spe. Jeden Augenblick konnten Bittsteller vor der Tür stehen und Asha ihre Probleme vortragen. Die Wäsche vom Morgen war noch klamm. »Na toll«, Asha befühlte ein Handtuch, »draußen scheint die Sonne, aber du hängst die Wäsche hier drin auf. Kannst du nicht
ein
Mal was richtig machen, wenn ich nicht da bin?« Manju wandte sich ab, damit die Schüler ihr Gesicht nicht sahen.
    Danach gab sie nur noch alle zwei oder gar drei Tage Unterricht. Die Kinder wussten genau, dass das nicht Manjus Entscheidung war. Als in dem rosaroten Tempel beim Klärteich eine neue gemeinnützig-geförderte Schule aufmachte, zog es viele Kinder dorthin, aber sobald der Leiter von deren Non-Profit-Verein genug Fotos von lernenden Kinder gemacht hatte, um die staatliche Förderung sicher zu haben, war sie wieder zu.
    In der frei gewordenen Zeit ging Manju einer zweiten Idee nach, wie sie ihre sozialen Netzwerke erweitern könnte. Sie wurde Mitglied beim Indian Civil Defence Corps. Der Mumbaier Zivilschutz bestand aus Mittelschichtbürgern, die sich für die Rettung von Menschen bei Überschwemmungen oder Terrorattacken ausbilden ließen.
    Wie viele andere machte sich auch Manju zunehmend Sorgen über mögliche Terroranschläge. Im Juli war eine Bombe in Bangalore explodiert, danach hatte es in Ahmedabad geknallt – neunzehn Bomben mitten im Herzen der Stadt. Sie waren nicht von Maoisten gelegt worden, Maoisten waren ein Problem der ländlichen Regionen. In den Großstädten ging die Gefahr von religiösen Fanatikern aus, die manchmal in E-Mails an Zeitungen behaupteten, im Auftrag Allahs zu handeln.
    Die Finanzkapitale Mumbai war ein naheliegendes Anschlagsziel, und so gesellten sich zur Phalanx der Security-Leute in den Fünf-Sterne-Hotels bald auch Spürhunde. Am Flughafen wuchsen Sandsackwälle in den Himmel. Auf dem Western Express Highway wurden die Städter neuerdings durch elektronische Anzeigetafeln zur Wachsamkeit aufgefordert: FREMDE IN DEINER GEGEND ? RUF DIE POLIZEI . Nach Manjus Ansicht war ein Zivilschutzkorps doch eine handfestere Hilfe für ihre Stadt als ein Anruf bei der Polizei wegen irgendwelcher Fremden.
    Also stellte sie in einem höhlenartigen Keller eines Regierungsgebäudes Krisensituationen nach und übte Lebensrettungstechniken ein, gemeinsam mit vierzig anderen Maharashtrianern – Frauen in den mittleren Jahren und zwei idealistischen Collegestudenten.
Bei einer Bombenexplosion: Ruhe bewahren und sich zuerst selbst in Sicherheit bringen. Danach andere

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