Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
weggesperrt wurde, und nicht mal an Ashas Geschichten aus der Großstadt. Die Bauern starrten vielmehr andauernd in den Himmel.
Was bei Annawadiern Regenpause hieß, hatte hier auf dem Land einen anderen Namen: Dürre. Im Juni hatte es kaum geregnet, die im Monat davor ausgesäten Baumwollkeimlinge waren zu Millionen vertrocknet. Die Dorfbewohner hatten gesalzene Preise für die Samen gezahlt: Es waren genmanipulierte »Hybride«, theoretisch bestens geeignet für das unbeständige Klima in Vidarbha. Jetzt musste neu ausgesät, mussten neue Darlehen für neues Saatgut aufgenommen werden.
Manchen Kunbis galt der Juli als Monat, in dem die Götter schliefen. Ashas Verwandte hofften, dass die Götter dies Jahr nach einem anderen Fahrplan vorgingen, und fanden selbst vor lauter Sorgen nachts keinen Schlaf.
Vor zwei Jahrzehnten hatten Asha und ihr Mann ihre Bauerndörfer, die dreißig Kilometer auseinanderlagen, verlassen, und seitdem hatte sich schon einiges zum Besseren gewandelt. Manche Häuser waren jetzt größer und solider, mit dem Geld, das die in die Stadt Abgewanderten heimschickten. Auch öffentliche Gelder hatten die Landschaft verändert: Zwischen den ausgedörrten Feldern verstreut standen jetzt neue Schulen, Colleges und stattliche Verwaltungsgebäude, und die Rasenanlagen davor waren so gepflegt wie die vor dem Hyatt Hotel an der Airport Road. Die Regierung hatte auch neue Wasseranschlüsse installiert, aber sie reichten nicht aus, die versiegenden natürlichen Bewässerungssysteme in Vidarbha zu ersetzen. Regenmangel und illegal angezapfte Brunnen ließen den Grundwasserspiegel ständig weiter sinken, große und kleine Flüsse trockneten aus oder veränderten ihren Lauf. Das Fischsterben und die Missernten hatten die Geldverleiher zu inoffiziellen Dorfoberhäuptern gemacht.
Manche Bauern schämten sich ihrer Schulden so sehr, dass sie sich umbrachten – eine uralte Geschichte aus dem klassischen Marathi-Film-Fundus. Aber sie wurde noch immer gespielt. Laut einer amtlichen Zählung vom Anfang des neuen Jahrhunderts gab es jährlich durchschnittlich tausend Selbstmorde in Vidarbha, die Zählungen von Menschenrechtsorganisationen kamen auf sehr viel mehr. Wie viele Selbstmorde genau es auch sein mochten, sie hatten jedenfalls aus Vidarbha eine weltbekannte Chiffre für die verzweifelte Armut im ländlichen Indien gemacht.
Aus den staubbeschichteten Akten in den Verwaltungsarchiven von Vidarbha ging hervor, dass Selbstverbrennungen durch zeitgemäße Selbstmordmethoden abgelöst worden waren – vor allem durch das Trinken von Pestiziden. Auf Tausenden stockfleckiger Seiten hatten Angehörige geschildert, in welcher Bedrängnis ihre Lieben gewesen waren:
Letzte zwei Jahre keine Ernte. Konnte sein Darlehen nicht zurückzahlen. Dann kam noch ein Feuer in der Hütte dazu. Alle Samen sind verbrannt – Sonnenblumen, Weizen, alles hin. Er hatte kein Geld, seinen zweiten Sohn zu verheiraten, und dauernd fragten die Leute, wann endlich Hochzeit ist –
Seine Familie war sehr groß, er hat Bankbelege angeguckt, die haben ihn umgehauen, und dann hat er Insektengift getrunken. Das Darlehen war riesig, er hat nicht mehr gewusst, wie er das abzahlen soll.
Er war nicht der Schnellste und Hellste, er hat auf dem Feld geschuftet, aber dann hat er einen Kredit aufgenommen für die Hochzeit seiner Tochter, und damit saß er in der Falle.
Er hat seinem Vater gesagt: »Ich bring mich um, wenn du mir kein Handy kaufst.« Und dann hat er Gift getrunken.
Premierminister Manmohan Singh war eigens aus Delhi angereist, um seine Betroffenheit über die Not der Bauern zu demonstrieren und zu verkünden, die indische Regierung sei fest entschlossen, für Linderung zu sorgen. Manche Hinterbliebene der hochverschuldeten Selbstmörder bekamen eine staatliche Entschädigung, und für Bauern, die Geld bei der Bank und nicht bei Kredithaien geliehen hatten, wurden Schulden- und Zinserlasspläne aufgestellt. Die Zentralregierung setzte außerdem massive Fördermaßnahmen in Gang, um die Einkommensstruktur auf dem Land insgesamt zu verbessern, unter anderem durch hundert öffentlich finanzierte Arbeitstage pro Jahr für arbeitslose Dorfbewohner. Man hoffte, dass man so auch die Landbevölkerung davon abhalten konnte, ihre Felder stehen und liegen zu lassen, und Städte wie Mumbai vor weiterer Überflutung zu schützen. Ashas Verwandte hatten von derlei vielgepriesenen Hilfsprogrammen allerdings noch nichts
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