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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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die ganze Familie aufsteigen. Der Mann auf Mauritius hatte vermutlich Geld, aber bei dem Gedanken, ihre einzige Tochter nach Afrika zu schicken, war Asha unwohl, sie hatte gehört, da würden hübsche Mädchen als Sklavinnen verkauft. Also entschied sie, erst mal gar nichts zu entscheiden, und ermutigte Manju stattdessen, ihr soziales Umfeld auszuweiten und die Chancen auf ein lukrativeres Angebot selbst zu vergrößern.
    Asha war der Meinung, wer sich verbessern will, soll möglichst viele Methoden ausprobieren, denn man kann kaum vorhersehen, welche davon funktioniert. Manjus erste Idee war gewesen, auch Versicherungen zu vermitteln, wie eine ihrer Mitschülerinnen im College. Die Life Insurance Corporation of India schickte angehende Mitarbeiter dafür zu einem kostenlosen Training, in einem Bürogebäude nicht weit vom Hotel Leela.
    Asha fand die Fernsehwerbung dieser Firma verlockend, wer sich so eine Versicherung leisten konnte, war praktisch gegen alle Unwägbarkeiten des Lebens in Indien gefeit. In einem Werbespot hatte ein umsichtiger junger Ehemann seine Frau krankenversichert, bevor sie einen Verkehrsunfall hatte. Und jetzt, oh Wunder, konnte sie schon wieder aus dem Rollstuhl aufstehen! Mit einer Lebensversicherung wurden aus Trauerfeiern geradezu Feste! Wenn Manju solche Policen verkaufte, könnte sie mit wohlhabenden Leuten in Kontakt kommen und gleichzeitig Geld nach Hause bringen.
    Manjus Brückenschüler kamen extra früh in die Hütte und halfen ihr, all die englischen Namen für die Policen zu lernen: Sichere Zukunft  II , Vermögen Sicher Angelegt, Invest-Schutz, Lichtblick Leben. Die Hefte der Kinder füllten sich kurzfristig mit Vokabeln wie Rückkaufswert, Anlageprämie, Teilrücktritt.
    Im firmeneigenen Trainingskurs lernte Manju, dass man keine Versicherung verkauft, wenn man Tragödien oder den Tod direkt erwähnt. Man musste den Blick vor allem auf die Gewinnperspektive lenken – zum Beispiel die Geschichte von dem Mann erzählen, der vierzig Policen erworben hatte und dessen Familie nach seinem Tod in Rupienscheinen praktisch versank.
    Manju übte Verkaufstaktiken und Gegenargumente, bis sie sie fließend beherrschte, und bestand die Prüfung mit besten Noten. Danach: Ende. Kannte sie auch nur einen Menschen, der sich eine Lebensversicherung leisten konnte?
    »Alle sind bloß scharf auf ihren Profit«, erklärte sie ihren Schülern eines Tages kopfschüttelnd. »Die fragen sofort, wenn ich das und das mache, wie viel krieg ich dafür? Die Mädchen im College genauso, die reden sogar übereinander so. ›Wieso soll ich mich mit dieser gruseligen Pallavi unterhalten? Was hab ich denn davon? Was bringt mir das?‹«
    Zubbu, die elfjährige Tochter des Puffbesitzers, verstand besser als die anderen Kinder, was Manju umtrieb. Ihre Eltern wollten sie unbedingt verkaufen, und die Kleine hatte das Gefühl durchzudrehen. Manju konnte nur beten, dass die Eltern mit dieser Geschäftsidee genauso wenig Erfolg hatten wie mit allen anderen.
    Wenn sie Mädchen wie Zubbu unterrichtete, spürte Manju deutlich, wie viel Glück sie hatte. Wenn sie die Prüfung im nächsten Frühjahr bestand, hatte sie ein staatliches Bachelor-Diplom. Noch ein Jahr Studium, finanziert durch den Verkauf eines der Mietzimmerchen in der Familienhütte, und sie war Lehrerin mit Staatsexamen. Hoffnungen auf eine feste Anstellung in einer staatlichen Schule machte sie sich allerdings nicht, solche Stellen gab es nur mit Unmengen von Schmiergeldern an Leute vom Schulamt. Aussichtsreicher waren kleine Privatschulen, obwohl die meistens so schlechte Gehälter zahlten, dass die Mitschülerinnen, die sich wie Manju aufs Staatsexamen vorbereiteten, schon besorgt überlegten, ob sie in einen Beruf mit Hungerlöhnen investierten. Eine wollte nach dem Examen doch lieber gleich in ein Callcenter gehen, eine andere fand, als Köchin könne sie mehr verdienen. Manju war die Einzige, die noch immer Lehrerin werden wollte. Die annawadische Zwergschule, in der sie ihre pädagogischen Talente verfeinerte, ging ihrer Mutter allerdings täglich mehr gegen den Strich. Asha sah einfach keinen langfristigen Gewinn im Brückenbauen für Unterschichtkinder.
    Manjus »Brückenschule« wurde von der indischen Zentralregierung gefördert, und zwar wie Hunderte anderer in Mumbai über Verträge mit gemeinnützigen privaten Einrichtungen. Indiens neuer Reichtum hatte auch zu höheren staatlichen Investitionen im Bildungswesen geführt, die Mittel wurden

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