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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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mitbekommen.
    Chancenverteilung war eine andere Form von Insiderhandel unter Indern von Macht und Einfluss. In diesem Sommer wurden anderswo im Land für zig Milliarden Euro staatliche Telekommunikationslizenzen an den Konzern verkauft, der unter der Hand das meiste bot, wurden öffentliche Gelder, mit denen Sportanlagen mit Weltklasseformat für die Commonwealth Games 2010 gebaut werden sollten, für private Zwecke umgewidmet, wurde die parlamentarische Opposition gegen den historisch bedeutenden Atomvertrag zwischen Indien und den USA mit zentnerweise Bargeld zahm gemacht, belief sich das Gesamtvermögen der hundert reichsten Inder schließlich auf fast ein Viertel des gesamten indischen Bruttosozialprodukts.
    In einem schmalen Waldgebiet in Vidarbha, östlich von Ashas und Mahadeos alter Heimat, glaubten viele Bewohner schon lange nicht mehr an die versprochenen Verbesserungen der Regierung. Sie waren durch großangelegte regionale und zentralstaatliche Modernisierungsprojekte faktisch ihres Landes und ihrer traditionellen Lebensgrundlagen beraubt worden und hatten einer vierzig Jahre alten maoistisch-revolutionären Bewegung zu neuem Leben verholfen. Die Maoisten operierten mittlerweile mit Landminen, Raketenwerfern, Nagelbomben und Schusswaffen als Guerilla gegen Kapitalismus und Staat in etwa einem Drittel der 627 indischen Distrikte, einschließlich eines unterentwickelten Landstrichs in Mittel- und Südindien, dem berüchtigten »Roten Gürtel«. In diesem Sommer waren die Maoisten im Bundesstaat Orissa besonders umtriebig gewesen. Sie hatten ein Boot versenkt und dabei achtunddreißig Elitesoldaten getötet und einen Mannschaftswagen in die Luft gesprengt und zweiundzwanzig Polizisten getötet.
    In den meisten Dörfern stand den Bauern der Sinn noch nicht nach Revolution. Sie warteten ab, ob Infrastrukturverbesserungen und neue Landwirtschaftstechniken sich positiv auf ihre Perspektiven auswirkten. Eine der technischen Neuheiten trug Manjus siebzehnjähriger Cousin Anil dies Jahr beim Schuften in den Baumwoll- und Sojafeldern auf dem Rücken: einen schweren Metallkanister voll Dow-Chemicals-Pestizid.
    Die Felder, auf denen er schuftete, gehörten einem reichen Politiker, der seinen Arbeitern tausend Rupien Monatslohn zahlte, fünfzehn Euro. Ihm brachte die neuartige Chemie höhere Ernteerträge und Gewinne, für die Feldarbeiter wurde die ohnehin harte Arbeit durch die schweren Kanister und die Giftschwaden zur Qual. Erst vor kurzem hatte einer von Anils Kollegen nach der Arbeit seinen Kanister abgesetzt, einen Baum am Feldrand erklommen und sich erhängt. Seine Familie bekam keine staatliche Entschädigung für ihren Verlust.
    Anil führte nachts oft imaginäre Gespräche mit diesem Politiker, in denen er ihm freundlich erklärte, dass härtere Arbeit doch auch etwas mehr Lohn verdiene. Aber ein Arbeiter, der sich beschwert, ist leicht zu ersetzen. Anil behielt seine Gedanken lieber für sich, auch die an Selbstmord.
    Versuch doch auch dein Glück in Annawadi, hatte Asha ihm im Jahr davor geraten, und so war Anil einer der rund fünfhunderttausend Inder geworden, die Jahr für Jahr aus ihren Dörfern nach Mumbai zogen. Er hatte mit anderen Arbeitssuchenden im Morgengrauen an der Kreuzung Marol Naka beim Flughafen gewartet auf die Bauaufseher mit ihren LKWs, die Tagelöhner aufluden. Jeden Morgen standen dort tausend arbeitslose Männer und Frauen, ausgewählt wurden ein paar hundert. Anil hatte keine Ahnung, dass die Lebenserwartung in Mumbai sieben Jahre kürzer war als im Landesdurchschnitt. Er wusste nur, wenn er an dieser Kreuzung stand und vergebens mit all den anderen Zuwanderern konkurrierte, fühlte seine Brust sich an wie mit Stroh ausgestopft. Nach einem Monat, in dem ihn niemand wollte, war er in sein Dorf zurückgekehrt.
    »Die Leute haben mich ausgelacht, als ich wieder hier war«, berichtete er Manju. »Ich hatte ja erzählt, ich geh mal Geld verdienen und seh mir die Großstadt an, aber nichts davon hab ich hingekriegt. Das einzig Große, was ich gesehen hab, waren Flugzeuge.«
    Am Vorabend der Hochzeit brachte Manju als älteste weibliche Vertreterin ihrer Generation einen Topf mit Körnern durch das Dorf zum Tempel, in dem die Gebete für Braut und Bräutigam gesprochen werden sollten. Sie trug eine pfirsichgelbe, paillettenbesetzte Tunika, die ihre Tante in Mumbai ausrangiert hatte, und führte eine Parade aus Verwandten und Nachbarn an. Über staubige Straßen, zwischen im Dreck

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