Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
obwohl er dadurch eindeutig ins Hintertreffen gegenüber dem Tamilen geriet, der Profitmaximierung per Drahtschneiderverleih betrieb. Er prügelte sich nie, log nur manchmal und äußerte selten Unmut über seinen Vater. Sicher, er hätte noch besser und noch ehrenhafter gewesen sein können. Aber das konnte er ja noch werden.
Künftig würde er kategorisch ablehnen, irgendetwas zu kaufen, das ihm gestohlen vorkam, selbst wenn es nur geklaute Abfälle waren. Er würde auch nicht irgendetwas zugeben, das er Fatima gar nicht angetan hatte, selbst wenn er dadurch aus Dongri rauskäme, selbst wenn der Familienetat noch so sehr unter seiner Abwesenheit litt.
Für seine Familie war seine körperliche Leistungsfähigkeit immer ausschlaggebend gewesen. Abdul war das Arbeitspferd, was er wie moralisch beurteilte, dagegen irrelevant. Er war nicht mal sicher, ob er überhaupt moralische Urteile fällte. Aber als der Master über
taufeez
und
izzat,
Anstand und Ehre, sprach, hatte Abdul das Gefühl, dass der Blick dieses Mannes über die Kopfreihen hinweg zu ihm loderte und auf ihm ruhte. Es war noch nicht zu spät, mit siebzehn oder wie vielen Jahren auch immer, sich gegen die zerstörerischen Mächte seiner Welt und seines eigenen Wesens zu wehren. Selbst ein schwerfälliger, ungebildeter Junge konnte zu Rechtschaffenheit fähig sein: Er nahm sich fest vor, das und all die anderen Wahrheiten nie zu vergessen, die der Master verkündete.
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Teil Drei
Ein kleines bisschen Wildheit
Wenn man vom Tod redet,
macht man kein Geschäft.
Manju Waghekar
9. Der Marquee-Effekt
I m Juli fuhr Asha mit der ganzen Familie nach Vidarbha, in einen Distrikt im Norden von Maharashtra. Als sie nach dreizehn Stunden aus dem Zug stiegen, wurden sie erst einmal einer Gesichtskontrolle unterzogen, und die dörfliche Verwandtschaft fand tatsächlich Indizien, dass das Leben in Mumbaier Slums ziemlich gut sein musste. »Ihr seid ja alle viel heller als früher, als ihr klein wart«, stellte ein Cousin von Manju, Rahul und Ganesh fest. »Ganz glatt.
Chikna.
Früher wart ihr ziemlich schwarz und schüchtern.«
Die älteren Frauen mussten die Hälse recken, um Asha ganz in Augenschein zu nehmen, sie hatten alle einen krummen Rücken von jahrzehntelanger Landarbeit. Ashas Urgroßmutter krabbelte auf allen vieren. Asha richtete sich kerzengerade auf, als sie die Greisin sah. Sie kam sich vor wie eine heimgekehrte Titanin.
In Annawadi weinte sie sich immer die Augen aus dem Kopf, wenn im Marathi-Fernsehen Dorffilme liefen. Selbst die schmalzigste Hochwasser-und-Hunger-Schnulze riss sie in ihre jungen Jahre zurück, als sie noch selbst den harten Boden von Vidarbha beackert hatte. Manchmal erzählte sie ihren Kindern davon, mit einem Unterton, der alles ins Absurde zog, auch sich selbst: als eine Art irrwitzige Teenie-Ausgabe von Mutter Indien, die sich selbst vor den Pflug spannt, wenn der Ochse gestorben ist. Die Frauen des Dorfes erinnerten sich mit Hochachtung an die Asha von damals. Sie war jemand Besonderes, sie konnte arbeiten wie ein Esel, selbst wenn sie tagelang nichts gegessen hatte.
»Sie war spindeldürr und halb verhungert, als wir in den Orangenhainen gearbeitet haben«, flüsterte eine Verwandte den anderen zu. »Kann man gar nicht mehr erkennen. Jetzt ist sie die doppelte Portion, und wie sie redet – man denkt glatt, die hat nie mit den Füßen im Dreck gestanden.«
Asha genoss es, bewundertes Klatschobjekt und vor allem weit weg von den annawadischen Querelen zu sein. Sie war zu ihren Leuten aus der Bauernkaste der Kunbis heimgekehrt, um ihre schöne Tochter zu vermarkten und ihren relativen Wohlstand vorzuführen. Mahadeo sollte ihren nüchternen Ehemann spielen, sie seine ehrerbietige Frau und Manju sich selbst, dann müssten die Heiratsangebote eigentlich nur so prasseln, trotz des offiziell anderen Anlasses dieser Reise.
Der andere Anlass war eine frugale Hochzeitsfeier: ohne Musik, ohne Tanz, ohne Jalebis. Der Bräutigam, ein Neffe von Mahadeo, war noch in Trauer um seinen älteren Bruder, der war an Aids gestorben und hatte kurz vorher noch seine Frau angesteckt. Aids grassierte in Vidarbha, wurde aber vehement verleugnet. Wenn irgendwie durchsickerte, dass es jemanden aus Manjus Verwandtschaft erwischt hatte, verlor sie als Braut womöglich massiv an Wert. Die restlichen Dorfbewohner zeigten jedoch weder besonderes Interesse am Tod des jungen Mannes noch an seiner Witwe, die während der gesamten Festlichkeiten
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