Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
besser, sogar den eigenen Brüdern überlegen. Ganesh mit seinen vierzehn Jahren war ein sanfter Zauderer, Rahul fehlte bei all seinem Selbstvertrauen jeder Ehrgeiz. Er hatte den Hoteljob hingeschmissen und räumte stundenweise, aber glücklich und zufrieden in einer Kantine für Flughafenpersonal die Tische ab. Asha erkannte in ihren Söhnen immer deutlicher ihren Mann wieder. Sie hatte ihnen alles beigebracht, was sie wahrscheinlich überhaupt zu lernen imstande waren – mittlerweile gehörten die beiden zu den schnellsten männlichen Zwiebelwürfelschneidern von ganz Annawadi –, jetzt sollten sie selber sehen. Anscheinend waren nur sie selbst und Manju fähig zu der planerischen Intelligenz, mit der die Familie den Aufstieg in Indiens wachsende Mittelschicht schaffen könnte.
Asha wusste noch genau, wie ihre Nachbarn reagiert hatten, als sie mit ihren sieben Jahren Schulbildung die Stelle in der Vorschule bekommen hatte. Wenn sie sie mit »Frau Lehrerin« anredeten, schwang leiser Spott mit. Nach und nach setzte sich die Anrede jedoch durch und verlor den hämischen Unterton. Mit dem Einwandern in die Oberstadt könnte es doch auch so gehen: Man inszeniert sich als Oberstädter, sitzt alles Gehechel aus, und irgendwann ist man einer. Im Grunde ein ähnliches Verfahren wie Manjus Auswendiglernen fürs College.
»Und scheu dich nicht, erstklassige Leute direkt anzusprechen. Die sind manchmal ganz nett und reden mit dir«, instruierte sie ihre Tochter. »Frag sie ruhig aus, was man so tun kann für sein Aussehen, und nimm ihren Rat an.«
Asha hatte selbst erst neulich einen Mann von der Shiv Sena um eine strenge Imagekritik gebeten. »Er sagt, zieh keine Stöckelschuhe an, wenn du sehr groß bist, das sieht billig aus«, berichtete sie Manju. »Geh nicht im Kittel aus dem Haus. Trag einen Sari. Trag deine Mangal Sutra nicht an einer kurzen, sondern an einer langen Kette. Guck nicht, als ob du Probleme hättest, selbst wenn du die hast – kein Mensch guckt gern in ein Gesicht mit Sorgenfalten. Und geh nie neben Leuten, die schlechter aussehen als du.«
Mit dem letzten Rat war der Parteigenosse etwas unverblümt herausgeplatzt. Asha war eines Abends mit ihm zusammen zum Haus des Bezirksrats gegangen, und er hatte erklärt: »Also, ich seh gut aus, und du siehst hässlich aus, und deine Hässlichkeit geht auch auf meine Kosten.«
Manju brachte aus dem College weitere Erkenntnisse mit: baumelnde Ohrringe gleich Unterschicht, zierliche Reifchen gleich Oberschicht. Und Oberschichtfrauen tragen Jeans, teilte sie ihrer Mutter mit, woraufhin die ihr Bell-Bottoms genehmigte. Eines Tages stand Manju vor dem Spiegel, probierte aus, wie sich die Jeans mit ihrer geerbten pfirsichgelben, paillettenbesetzten Tunika vertrug, und sagte laut: »Marquee-Effekt«. Das Wort hatte sie aus dem Computerkurs, als sie Photoshop gelernt hatten.
Der Marquee-Effekt verlor sich ein bisschen, als Mutter und Tochter von Ashas Schwester einen Haarschnitt mit federartigen Fransen verpasst bekamen. Bei dem feuchten Klima stellten sich die Federn zu einer Art Riesenkräuselwolke auf. Trotzdem machte es Spaß, die Monsunzeit für die eigene Modernisierung zu nutzen. Manju fühlte sich plötzlich von ihrer Mutter von gleich zu gleich behandelt und brachte ein neues Thema auf: Wirklich erstklassige Leute heirateten auch kastenübergreifend, und zwar jemanden, den sie ausgesucht hatten, nicht ihre Eltern.
»Die Reichen haben da alle eigene Vorstellungen«, erklärte sie.
So erstklassig wollte Asha auch wieder nicht werden.
Ihr hatte dieser Soldat aus einer relativ wohlhabenden Familie in Vidarbha gut gefallen, aber ihr Mann hatte die Verlobung mit dem erstaunlichen Argument abgelehnt, dass Soldaten oft zu viel tranken, so wie er. Inzwischen war Schwester Paulette schon zweimal zu Asha nach Annawadi gekommen, um die Werbetrommel für einen weiteren eventuellen Bräutigam zu rühren, einen Mann in den mittleren Jahren, der auf Mauritius lebte. »Er ist mein Bruder«, hatte die Nonne erklärt und dazu heftig gezwinkert. Asha hatte Schwester Paulette im Verdacht, nicht ganz uneigennützig zu handeln. So wie sie selbst auch, in gewisser Weise.
Die meisten Annawadier betrachteten Töchter als Bürde, die Mitgift war eine erdrückende finanzielle Last. Asha war dagegen schon vor einiger Zeit die Idee gekommen, ein so schönes, patentes und aufopferungsvolles Mädchen wie Manju könnte sich als Vorteil erweisen, denn mit ihrer Verheiratung könnte
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