Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
vor dem Zaun stand.
Sie ahnte, und zu Recht, dass zu Hause gerade Manjus Tränen auf ein Stück Schokoladenkuchen tropften. Jahrelang hatte sie die Hoffnung gehabt, dass ihre Tochter ihre Männergeschichten nicht mitbekam. Jetzt wäre ihr lieber, sie hätte Manju so weltoffen erzogen, dass sie Verständnis dafür hatte. Es ging ja schließlich nicht um Lust oder Modernsein, obwohl bekanntlich gerade erstklassige Leute viel in der Gegend herumschliefen. Es ging auch nicht nur um das Gefühl, geliebt und schön gefunden zu werden. Hier ging es um Geld und Macht.
Asha war einfach schneller im Kopf als andere Leute. Ein paar Politiker und Polizisten hatten das endlich erkannt und sich sogar davon abhängig gemacht. Aber das reichte längst nicht. Sie war mit zwanzig als arme, ungebildete Flüchtlingsfrau aus den Dürregebieten gekommen, mit einem Mann, der keinen Bock auf Arbeit hatte. Jetzt war sie vierzig, Vorschullehrerin und die einflussreichste Frau in ihrem Slum. Eine Frau, die ihrer Tochter eine Collegeausbildung verschafft hatte und ihr hoffentlich demnächst eine glanzvolle Hochzeit verschaffen würde. Allein Manjus Werdegang rechtfertigte alle Kompromisse. Sogar die Angsträume, an Aids zu sterben.
Sie musste diesen Bluttest hinter sich bringen. Sie wusste es. Sie musste sich jetzt auf die Airport Road konzentrieren, Ausschau nach dem Polizisten halten. Aber plötzlich strömte eine Hochzeitsgesellschaft heraus in die Anlage des Grand Maratha. Nach dem Hindukalender war heute ein Glückstag, von Astrologen besonders für Hochzeiten empfohlen. Das hatte sie ganz vergessen. Eine Blaskapelle spielte ein Stück, das sie nicht erkannte. Paparazzi schubsten sich gegenseitig beiseite und versperrten ihr die Sicht auf die Braut. Rote und rosarote Konfettischnipsel schwirrten über den Zaun und landeten kurz vor ihren Füßen, bis sie von Böen verweht wurden. Dann fuhr ein weißer Polizeiwagen vor. Ihretwegen. Langsam wandte Asha sich ab von den Lichtern und der Kapelle und der Feier, und die Hintertür des Fahrzeugs glitt auf.
10. Papageien, verraten und verkauft
E ines Morgens Ende Juli fand Sunil in der Dämmerung einen der Müllsucher-Kollegen, er lag im Schlamm, da, wo die buckelige Straße von Annawadi auf die Durchfahrt zum Flughafen stößt. Sunil kannte den alten Mann flüchtig, er schuftete hart und schlief auf der Straße am Marol-Fischmarkt, knapp einen Kilometer entfernt. Jetzt war sein eines Bein blutiger Matsch, und er rief Passanten um Hilfe an. Sunil vermutete, dass er angefahren worden war. Manche Autofahrer hielten sich nicht groß mit Ausweichmanövern auf, wenn Müllsammler am Straßenrand herumstöberten.
Sunil traute sich nicht, zur Polizei zu gehen und um einen Krankenwagen zu bitten, schon gar nicht seit dem, was gerüchteweise mit Abdul passiert war. Er lief in Richtung des Schlachtfelds bei den Müllcontainern auf der Cargo Road, in der Hoffnung, irgendein Erwachsener da würde es wagen, zur Polizei zu gehen. Hier waren jeden Morgen Tausende Menschen unterwegs.
Zwei Stunden später, als sich Rahul von Annawadi aus auf den Schulweg machte, schrie der verletzte Mann nach Wasser. »Der ist ja noch besoffener als dein Vater«, spottete einer von Rahuls Freunden. »Besoffener als
deiner
vielleicht«, konterte Rahul einfallslos. Sie bogen auf die Airport Road ein. Angst vor der Polizei hatte Rahul nicht, er war schon mal zur Wache gerannt und hatte Hilfe geholt, als der Nachbar seinem kranken kleinen Sohn Danush kochend heiße Linsen übergegossen hatte. Aber der Mann hier auf der Straße war bloß ein Müllsucher, und Rahul musste den Schulbus kriegen.
Eine weitere Stunde später, als Zehrunisa Husain an dem verletzten Müllsucher vorbeikam, schrie er vor Schmerz. Sie fand, dass sein Bein höllisch aussah, aber sie war mit Essen und Medikamenten auf dem Weg zu ihrem Mann, und der sah auch höllisch aus, da in dem Knast in der Arthur Road am andern Ende der Stadt.
Kurz danach kam Mr. Kamble vorbei, mit glasigen Augen und schmerzgeplagt, er drehte noch immer seine Runden bei Geschäften und Hilfsorganisationen, auf der Suche nach Zuschüssen für seine Herzklappe. Auch Mr. Kamble war einst Asphaltbewohner wie der Verletzte gewesen. Jetzt hatte er nur noch Augen für seinen eigenen bodenlosen Kummer, weil er langsam merkte, dass im neuen Indien alle möglichen Wunder geschahen, nur nie für ihn.
Als Rahul und sein Bruder am frühen Nachmittag aus der Schule zurückkamen, lag der verletzte
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