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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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halbe Nacht auf, bloß weil du diesem Kalu zuhörst, und ich darf morgens jede Menge Zeit verplempern, um dich wach zu kriegen«, beschwerte er sich. Für ihn war Verschlafen ohnehin ein Rätsel. Er sagte: »Meine Augen gehen morgens immer von alleine auf.« Sunil war es nicht gewohnt, dass sich jemand Sorgen um ihn machte, und er fand es schön.
    Sonu hatte einen noch schrägeren Säufer zum Vater als Sunil. Er zerriss hin und wieder die Rupienscheine, die er tagsüber beim Straßenbau verdient hatte. »Scheiß drauf! Was zählt schon Geld?« Mit seiner Mutter dagegen hatte er Glück. Abends zupfte sie mit ihren vier Kindern klebrige Produktionsabfälle von rosaroten Wäscheklammern – Stückakkord für eine Fabrik nebenan. Tagsüber verkaufte sie Ketchuptütchen und Marmeladendöschen mit abgelaufenem Verfallsdatum auf einem Bürgersteig beim Hotel Leela. Die Marmelade und in Plastik eingeschweißte zerkrümelte Kekse waren Spenden von Cateringfirmen mancher Fluglinien für Schwester Paulette und ihre bedürftigen jungen Schützlinge. Die Nonne verkaufte die abgelaufenen Sachen stattdessen an arme Frauen und Kinder, die sie dann ihrerseits weiterzuverkaufen versuchten. Sonu war auf Schwester Paulette noch schlechter zu sprechen als Sunil.
    Sonu ging offiziell in die siebte Klasse der Marol-Gemeindeschule. Zum Unterricht erscheinen konnte er zwar nicht, weil er arbeiten musste, aber er meldete sich jedes Jahr für die nächste Klasse an, lernte abends und legte am Schuljahresende alle Prüfungen ab. Er fand, Sunil sollte das auch so machen. Eines Morgens wackelte er mit dem Kopf, als ob er sich die Taubheit aus dem Ohr schütteln wollte, und verkündete: »Wir bilden uns selber, dann machen wir bald so viel Geld, wie’s Müll gibt!«
    »Du bestimmt, Boss«, lachte Sunil, »und ich bin dann das arme Volk, okay?«
    »Willst du denn nicht auch jemand sein, Motu?«, fragte Sonu. Er nannte Sunil neuerdings »Motu« – Dicker –, was als Beschreibung höchstens im Vergleich zu ihm selbst passte.
    Sunil wollte durchaus jemand sein, aber er hatte nicht den Eindruck, dass der Unterricht an einer Gemeindeschule die Perspektiven für annawadische Jungen wirklich verbesserte. Selbst diejingen, die da die siebte oder achte Klasse schafften, suchten hinterher Müll, ackerten beim Straßenbau oder verpackten in irgendeiner Fabrik Fair&Lovely-Lotion. Nur Jungen, die auf Privatschulen gingen, hatten eine Chance, danach auch die Highschool zu schaffen und ein College zu besuchen.
    Sobald Sunil und Sonu wieder in Annawadi waren, hörten sie auf zu reden und sich beim Gehen mit den Hüften anzubuffen. Zwei dürre kleine Jungs, die ein bisschen Geld machen, sind leichte Beute. Größere Jungen kamen die matschige Straße entlanggelatscht, und plötzlich wurden Sunil und Sonu hochgerissen, kopfüber in den Boden gerammt und hatten die Nase voll Büffelscheiße. Ein Sohn von Robert, dem Zebrakümmerer, bot den beiden Schutz an, für dreißig, vierzig Rupien pro Woche. Als sie nicht zahlten, verdrosch er sie selbst.
    Sunil beneidete alle Kinder, die ganz offenbar mehr als den üblichen Schutz genossen. Es war allgemein bekannt, wer sich mit Ashas Kindern anlegt, kriegt einen Arschtritt von einer Shiv-Sena-Gang, also tat es niemand. Die Husain-Kinder hatten eine andere Art Rückendeckung, nämlich eine Familie im Kricket-Team-Format. Hindujungen behaupteten immer, Muslime sind ständig am Ficken, um so viele Babys zu machen, dass die Hindus in Unterzahl sind. Sunil fand große Familien toll, egal welcher Religion, denn alles, was er hatte, war die aufreizend zu viel gewachsene Sunita.
    Wenn er in der Nähe war, passte Kalu, der Mülldieb, auf Sunil auf, obwohl er selbst eher klein war. Manchmal am späten Nachmittag kletterte er zu Sunil auf einen Haufen aus warmem Bauschutt am anderen Ufer des Klärteichs, und die schrägen Sonnenstrahlen kurz vor der Dämmerung warfen Riesenschatten von beiden Jungen. Hier, weit außerhalb der Sichtweite des Zwinkerers, konnte Sunil in Ruhe seine tägliche Zigarette rauchen. Auch Kalu rauchte, trotz der Tuberkulose, die er sich vor ein paar Jahren zugezogen hatte.
    Die beiden Jungen liebten ihren verborgenen Aussichtspunkt jenseits des Wassers, der einen guten Blick auf Annawadi bot. Von diesem Trümmerhaufen aus war deutlich zu sehen, wie windschief die Hütten vor den hoch aufragenden geraden Linien des Hyatt und des Meridien standen. Sie sahen aus, als wären sie vom Himmel gefallen und beim

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