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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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Monsunperiode.
    Eines Tages ging Sunil ihm nach. Und zu seiner Überraschung stellte er fest, dass Sonu, der keinen einzigen Freund in Annawadi hatte, über einträgliche Beziehungen außerhalb des Slums verfügte – hauptsächlich zu den Security-Leuten an einem Eingang des weitläufigen Air-India-Geländes. Noch vor dem Morgengrauen stand Sonu mit einem fitzeligen Besen in der Hand im Dunkeln vor einer Toranlage auf der Cargo Road. Irgendwann wurde er von einem der Air-India-Wächter hereingelassen und legte los wie eine komische Furie. Er fegte die Gehwege, das Wachhäuschen und noch einmal die Gehwege, um die Abdrücke seiner eigenen kleinen Füße wieder zu tilgen, und er bückte sich so tief hinunter, dass er den ganzen aufgewirbelten Dreck einatmete. Es war ein so erbärmliches Bild, dass Sunil sich schon verächtlich abwenden wollte, als der Wächter zwei große Mülltonnen vor Sonus Füßen auskippte. Plötzlich begriff er, wie ausgefuchst die Sache war. Mitten auf der wilden Cargo Road, wo Halsabschneidersitten herrschten, hatte ein schmaler Teenager den Überfluss hinter den Sicherheitstoren ganz für sich allein, ein Vermögen an Plastikbechern, Coladosen, Ketchuptüten und Alufolie aus einer Kantine für Air-India-Mitarbeiter.
    Irgendwie – weil er Mitleid erregte? – hatte der zwinkernde Sonu mit den Wächtern dieses Geländes genau das geschafft, was Sunil mit den reichen Besucherinnen damals im Waisenhaus nicht geschafft hatte. Sonu hatte sich positiv abgesetzt von der schäbigen Masse. Bald darauf marschierte Sunil, nur leicht verlegen, Seite an Seite mit Sonu aus Annawadi in Richtung Flughafen.
    Er musste brüllen, damit Sonu ihn verstand, und anfangs war ihm das ziemlich egal. Für ihr Tagewerk reichte einsilbige Routine völlig: gemeinsam fegen bei Air India, Bierflaschen und Abfälle bei den Betreibern von Bierbars und Imbissständen ergattern und sich dann aufteilen, um den Arbeitsbereich zu vergrößern. Sunil war brillant im Erklimmen von Mauern und Wegrennen, wenn die Flughafenwächter ihn zu dicht beim Terminal erwischten. Sonu hatte keine Lust auf Prügel von Wachleuten. Er war Fachmann für Durchhaltevermögen und systematische Planung. Beim ersten Mal hatte er den Air-India-Wächtern Geld gegeben, damit sie ihm den Müll überließen, danach hatten sie keins mehr gewollt.
    Der vorige Müllsucher bei Air India hatte Sonu einmal zusammengeschlagen, weil er ihn verdrängt hatte, und pöbelte ihn noch immer an, wenn ihre Wege sich kreuzten, aber Sonu hatte sein Leben lang Hohn und Spott auf sich gezogen und scherte sich nicht um anderer Leute Meinung. Am Ende seiner täglichen Runden stand er auf der Airport Road, beobachtete den Verkehr, zurrte die Schnüre seines prallen Sacks stramm, und sein ganzer Körper strahlte Stolz aus.
    »Du hast mir beigebracht, wie man’s richtig macht«, sagte Sunil eines Tages zu ihm. Sonu war auch so freundlich, die täglichen Einnahmen korrekt zu halbieren, meistens vierzig Rupien, gut ein halber Euro, für jeden.
    Sie fingen an, bei der Arbeit mehr miteinander zu reden. Zuerst über Kleinkram: dass man mit den Zehen fast genauso gut beurteilen konnte, ob Sachen recycelbar waren, wie mit den Fingern, oder dass Sonus Familie ein Radio besaß, bei dem man immer einen gewischt bekam, wenn man es lauter stellte. Bald auch über bedeutendere Dinge, denn Sonu hielt beim Müllsuchen gern prägnante Kurzvorträge. Nein, Gelbsucht kriegt man, wenn man Wasser aus dem Klärteich schluckt, erläuterte er, als Sunil behauptete, Gelbsucht kriege man, wenn man Leute mit Gelbsucht hänselt. Sonu riet auch dringend davon ab, sich mit männlichen Touristen in den Luxushotels einzulassen, nach allem, was seinem kleinen Bruder passiert war. Und er empfahl Sunil, sich die Zähne öfter als einmal im Jahrtausend zu putzen, sein Mundgeruch sei schlimmer als der von den Slumschweinen und ihrem Gammelfraß.
    Eines Tages entdeckte Sonu am Mithiufer eine Kippe, bevor Sunil sie in die Tasche stecken konnte. Er ging in die Hocke und schlug mit einem Stein auf sie ein. Der kostbare Tabak rieselte heraus, der Filter war zerfetzt, und Sonu deutete mit dem Kopf auf das Häufchen Krümel. »Sunil, wenn ich dich noch
ein
Mal rauchen sehe, ja? Dann mach ich mit dir dasselbe, mit so ’nem Stein.«
    Genauso leidenschaftlich argumentierte Sonu gegen Sunils Begeisterung für Kalu, den Mülldieb, der für alle Jungen, die kein Geld fürs Kino hatten, immer Filme nachspielte. »Du bist die

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