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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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Müllsucher noch immer da, aber er rührte sich nicht mehr und keuchte nur noch schwach. Um halb drei rief ein Mann von der Shiv Sena einen befreundeten Polizisten in der Wache Sahar an, da sei eine Leiche, die kleine Kinder verstören könne. Um vier trafen Constables mit einem Polizeitransporter ein und heuerten andere Müllsucher zum Aufladen des Leichnams an, die Constables wollten sich ungern anstecken mit all den Krankheiten, die diese Mülltypen bekanntlich haben.
    Unbekannte Leiche, stellte die Polizei von Sahar fest, ohne nach der Familie des Mannes auch nur gesucht zu haben. Todesursache Tuberkulose, quittierte der Pathologe im Cooper Hospital, ohne eine Autopsie durchgeführt zu haben. Der für den Fall zuständige Inspector Thokale wollte die Ermittlungen schnell abschließen, aus geschäftlichen Erwägungen. Die anatomische Abteilung des Bijapur Medical College hatte bei ihm fünfundzwanzig Leichen zum Sezieren in Auftrag gegeben, auf die niemand Anspruch erhob, und mit der hier war die Bestellung komplett.
    Ein paar Tage später entdeckte ein junger Müllsucher im strömenden Regen beim Flughafen eine weitere Leiche: Auf einer Zufahrt zum internationalen Terminal lag ein Behinderter, daneben eine selbstgebastelte Krücke. Unbekannter Toter, keine Autopsie. Eine dritte Leiche tauchte am anderen Ufer des Klärteichs auf, in einem Loch, das Leute zum Scheißen nutzten. Jeder, der auf dieses Freiluftklo ging, hatte mitgekriegt, dass es dort neuerdings noch etwas schlimmer stank als sonst. Der zersetzte Leichnam war einmal der Autorikschafahrer Audhen gewesen, aber auch er wurde als »unbekannt« abgelegt, als Todesursache »Krankheit« vermerkt. Im Buschland jenseits des Hyatt tauchte noch ein vierter Toter auf, sein Kopf war zu Brei zerschmettert: ein Mann aus Annawadi, der am Flughafen Gepäck schleppte.
    Viele Bewohner äußerten den Verdacht, dass Einbein den ganzen Slum mit einem Fluch belegt hatte und Annawadi jetzt ruiniert war, verrottet,
barbad.
Das Gerücht ging um, dass nächstes Jahr nach den Parlamentswahlen alle Slums beim Flughafen plattgemacht würden.
    Manche Annawadier waren zuversichtlich, dass Bezirksrat Subhash Sawant die Invasion der Bulldozer doch noch hinausschieben könnte. Aber an einer Kreuzung in der Nähe flatterte ein Politplakat, das so klang, als seien längst Deals im Gange. »Du spielst, dass du mich verprügelt hast. Und ich spiele dann dicke Tränen. Ihr Leute, die ihr auf Flughafenboden lebt, ihr kennt das verlogene Rührstück genau. Jetzt erzählt euch die nächste Partei, nur sie sorgt dafür, dass der Flughafen euer Zuhause nicht zerstört. Und wieso macht sie dann Geheimtreffen mit den Regierungsleuten und den Bauherren?«
     
    Sunil fand die Toten und die Gerüchte gespenstisch, aber noch beängstigender fand er, dass seine kleine Schwester schon wieder zwei Zentimeter gewachsen war und damit auch der Größenunterschied zwischen ihnen. Während des Monsuns fiel am Flughafen nicht mal annähernd so viel Müll an, dass er genug zum Wachsen bekam. Er war mit seiner Moral am Boden, als er zufällig einen anderen Müllsucher aus Annawadi sah, einen Jungen lang wie ein Grashalm, der beim Schleppen fast in die Knie ging, so prallvoll war sein Sack.
    Es war Sonu Gupta, der Zwinkerer. Er lebte sieben Hütten von Sunil entfernt und war zwei Jahre älter. Vor ein paar Jahren, als die Müllsucherei am Flughafen noch nicht so zum Konkurrenzkampf ausgeartet war, hatten sie gemeinsam die Container auf der Cargo Road bearbeitet, aber die Partnerschaft hatte jäh geendet, als Sunil einmal Sonu aus Versehen die Nase gebrochen hatte. Seit kurzem schien Sonu allerdings zu signalisieren, dass er ihm verzieh. Manchmal traf Sunil ihn vor der Abenddämmerung, wenn Sonu auf dem Slumweg herumlungerte und ihm ein Ausdruck über das Gesicht huschte, als ob er sagen wollte: Lass uns doch zusammenarbeiten.
    Sonus Gesicht an sich war abstoßend: die Haut schrumpelig, eins der beiden ständig zwinkernden Augen schielte nach oben. Halb taub war er auch, und an heißen Tagen schoss ihm Blut aus der Nase – irgendein Geburtsfehler, der in der Familie lag. Sunil war inzwischen alt genug, sich auszumalen, was die anderen Jungen sagen würden, wenn er ein dermaßen unterirdisches Bündnis erneuerte. Andererseits war er neugierig, wo der Zwinkerer den vielen Müll herhatte. Schlechte Augen waren in jeder Jahreszeit ein echtes Handicap für einen Müllsucher, ganz zu schweigen von der

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