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Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben

Titel: Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katherine Boo
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beruhigen und in Sicherheit bringen. Bei Sturzfluten: Kürbisse und leere Plastikflaschen können vor Ertrinken schützen. Zum Schwimmen zu schwache Menschen kann man mit der Dupatta an sich binden und hinter sich herziehen.
    Manju war die magerste im Kader, sie hatte nicht die Kraft wie ein Gewichtheber beim beidarmigen Reißen, auf die es offenbar ankam, deshalb war ihre Rolle beim Training immer der tote Mann – das verletzte Rettungsobjekt. Sie lag flach auf dem Boden und simulierte mit wehenden Haaren sämtliche Panikbewegungen, die sie in irgendwelchen Hindi-Filmen gesehen hatte, von der Stoßatmung über panisches Augenflackern bis zum altbekannten Stöhnen und Bibbern. Dann warf irgendjemand sie sich über die Schulter und brachte sie in Sicherheit. Hier war Angefasstwerden erlaubt, und am allerschönsten war es, wenn sie ihren Körper entspannt in Vijays Arme sinken ließ. Vijay war ein ernster Collegestudent mit Quadratkiefer, der Anführer des Rettungsbataillons. Er war sehr angetan von der echten Hingabe, mit der Manju das Opfer spielte.
    Eines Abends, als sie in ihrer neuen Jeans und der Pfirsichtunika aus dem Trainingskeller kam, rief Vijay ihren Namen. Sie gingen zusammen über die Straße zur Bushaltestelle, und er fasste ihre Hand. Ihr erstes Mal. All ihr Sehnen bäumte sich auf gegen ihren ausgeprägten Hang zum Realismus, der ihr einhämmerte, dass die Vijays dieser Stadt leicht etwas Besseres kriegen konnten als ein noch-nicht-ganz-erstklassiges Mädchen.
     
    In einem Slum sind Geheimnisse schwer zu wahren. Erfolgreich gehütete Geheimnisse allerdings, so hatte Asha gelernt, waren eine Art Währung. Sollten die Leute doch erzählen, was sie wollten, wo sie abends hinging und was sie mit wem machte. Solange niemand sie dabei erwischte, würde sie alles abstreiten.
    Es war der Abend ihres vierzigsten Geburtstags – ein fahler Mond, ein verhangener Himmel, aber kein Regen. Manju teilte Kuchen aus, stellte einen Berg Kartoffelchips hin, und Asha drückte ihre Söhne an sich. Sogar Mahadeo war in Feierlaune und machte sich über eines der Geburtstagsgeschenke her, ein Plastikschatzkistchen mit Schokoladentalern in Goldpapier. »Könnten ruhig richtige Münzen sein, schließlich werde ich heute vierzig«, sagte Asha und biss lächelnd in ein Stück Kuchen.
    Ihr Handy klingelte. Das hatte es fast die ganze letzte Viertelstunde schon getan, aber Asha hatte es einfach nur tiefer in einer Falte ihres dunkelblauen Saris vergraben. Ein Polizist namens Wagh wollte offenbar dringend etwas von ihr.
    »Ein Notfall?«, fragte Manju. »So oft, wie der angerufen hat.«
    »Geht um die eine Frau da, Reena,
shakka
-Zeug«, log Asha. Shiv Sena, Frauenfraktionskram. Eine Minute später sagte sie, etwas vage: »Vielleicht müsst ich da hin.«
    »Was? Sag ihr, du kannst heute nicht – du feierst deinen Geburtstag«, befahl Manju fröhlich.
    Sofort danach nahm Asha ab. »Kann nicht«, sagte sie. Lange Pause. »Nein, geht nicht. Morgen? Weißt du –« Lange Pause. »Pass auf, ich …«
    Plötzlich stand sie vor dem Spiegel, puderte sich die Wangen, zupfte den Sari zurecht, kämmte sich die dichten Haare aus dem Gesicht. Und bemerkte die starren Blicke von Mahadeo und Manju im Spiegel.
    »Meine Halskette scheint echt auszusehen«, plapperte sie nervös vor sich. »Denn heute auf dem Bahnhof hat mir einer gesagt, ich soll die abmachen, sonst wird sie geklaut. Habt ihr mitgekriegt, dass auf dem Ghatkopar-Markt der Koriander nur fünf Rupien kostet? Ich war vorhin in der Gegend, zum Tee bei einer Freundin, und hab den Bus verpasst. Guter frischer Koriander, viel besser als unserer hier –«
    »Mutter«, sagte Manju leise, »geh nicht weg.«
    Das Handy klingelte wieder.
    »Ja, ich hab doch gesagt, ich komme«, sagte Asha, »ich beeile mich ja. Wohin?«
    Das Handy war jetzt auch voller Puder, er rieselte ihr den Hals hinunter. Sie schwitzte.
    Ihr Mann hatte Tränen in den Augen.
    »Mutter«, sagte Manju noch einmal und griff nach ihrer Hand. »Bitte, Mutter.«
    Aber Asha entwand sich dem Griff ihrer Tochter und eilte über den Maidan, vorbei an den Jungen in der Videobude, vorbei am Hyatt und ohne Halt weiter bis zur Bushaltestelle vor dem hochherrschaftlichen Grand Maratha.
    Das Hotel war das teuerste von allen und rosarot. Das heißt, jetzt rosarot-golden, denn die geschwungene Fassade aus Jaipur-Stein war von Hunderten Lämpchen illuminiert. Auch Asha leuchtete, als sie mit dem weißen Puderstreifen auf einer Wange

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