Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
die ohne Hilfe leiden und auf der Straße sterben darf.
Ein paar Tage bevor er aufbrach, sagte Kalu zu Sunil: »Mein richtiger Name ist Deepak Rai. Aber sag das niemandem. Und mein Hauptgott ist Ganesha.« Er fand, auch Sunil sollte den elefantenköpfigen Gott, der die Hindernisse aus dem Weg räumt, zu seinem Hauptgott machen. Um ihn zu überzeugen, nahm er ihn mit auf einen Bußgang zum Siddhivinayak-Tempel, fünfzehn Kilometer auf bloßen Füßen bis in die Altstadt von Mumbai.
Welchen Heiligen und Göttern man folgen sollte, war heiß umstritten unter den Straßenjungen. Manche sagten, Sai Baba sei aber schneller als der fette Ganesha. Andere behaupteten, Shiva könne sein drittes Auge aufschlagen und die beiden anderen zum Explodieren bringen. Sunils Mutter war gestorben, bevor sie ihm die Götter hätte erklären können, und Sunil wusste nicht genug über deren jeweilige Meriten, um sich für einen Lieblingsgott zu entscheiden. Andererseits – dass ein Junge sich mit den Göttern auskannte, hieß, wie er in Annawadi beobachtet hatte, noch lange nicht, dass diese Götter auch auf ihn aufpassten.
Eines Nachmittags stand Abduls Mutter in der Jugendstrafanstalt Dongri, durchweicht vom Regen und mit mangokerndunklen Schatten unter den Augen. Abdul kam schmollend aus seiner Baracke – er ließ den Kopf hängen, kickte einen Matschklumpen vor sich her. Sie durfte ihn nach Hause holen. Ein Richter hatte entschieden, Abdul sei nicht der Typ, der vor einem Jugendgerichtsprozess davonlief, und ihn mit strengen Auflagen entlassen: Bis zum Prozess meldest du dich jeden Montag, Mittwoch und Freitag in Dongri, zum Beweis, dass du dich dem Verfahren nicht entziehst.
Abdul trottete hinter seiner Mutter her durch einen langen stinkenden Flur, in dem es von Kindern wimmelte, dann durch den Innenhof und hinaus auf die Straße. Der Regen fiel nur noch in Tröpfchen, die matte Sonne stand schon tief und verblasste langsam. »Wann ist denn mein Prozess?«, fragte er. »Und wann ist mein Vater dran?«
»Das weiß kein Mensch, aber hab keine Bange«, sagte Zehrunisa, »überlass alles Gott, und vergiss nie zu beten. Wir haben jetzt einen Anwalt, der findet die richtigen Worte, und dann hat das alles ein Ende, denn der Richter wird die Wahrheit sehen.«
»Die Wahrheit sehen«, wiederholte Abdul skeptisch. Als wäre die Wahrheit eine Münze auf einem Gehweg. Er wechselte das Thema. »Wie geht’s meinem Vater?«
»Die kriegen keine Medikamente in der Arthur Road, und Platz zum Schlafen haben sie auch nicht. Ach, es ist furchtbar, dass er da drin ist – er ist ganz schmal im Gesicht geworden. Aber Kehkashan sagt, in ihrem Knast ist es nicht so schlimm. Sie betet viel, für uns alle. Sie sagt, das ist Allahs Wunsch, wenn der Ärger aus allen vier Himmelsrichtungen kommt.«
»Warum hast du nicht meinen Vater zuerst rausgeholt?«, fragte er. »Es ist nicht richtig, dass ich vor ihm raus darf.«
Zehrunisa seufzte und erzählte ihm, wie sämtliche Verwandten und Freunde jede Unterstützung für eine Kaution verweigert hatten und wie sie von der Familie seiner vermeintlichen Verlobten gedemütigt worden war.
»Für die andern Leute hat das bloß Unterhaltungswert, was uns passiert ist – Stoff zum Tratschen, wenn sie Langeweile haben«, sagte Abdul grimmig. »Jetzt wissen wir’s genau, um uns schert sich kein Mensch.«
Ein langes tiefes Schweigen folgte. Dann fragte er seine Mutter nach dem Müllgeschäft.
Es war unter Mirchis Kuratel zusammengebrochen. Die Müllsucher verkauften alle nur noch an den Tamilen mit der Spielbude.
Abdul gab einen Laut von sich, der wie ein verstärkter Schluckauf klang. Er hätte es sich denken können. Seine Eltern hatten Mirchi zu etwas Besserem als Müllarbeit erzogen. Auch er selbst hatte Mirchi etwas Besseres gewünscht.
»Na gut«, sagte er nach einer Weile und bohrte einen Finger in seine zuckende Unterlippe. Es sei ja nicht völlig hoffnungslos. Er würde wieder von vorn anfangen, noch härter arbeiten und versuchen, nicht übelzunehmen, dass er mit der Fahrerei nach Dongri und zurück drei Tage in der Woche verlor. Extraeinnahmen würde er sich verkneifen, denn er sei entschlossen, auf dem Pfad der Tugend zu wandeln, den der Master in Dongri empfohlen hatte, und sich für den Rest seines Lebens fernzuhalten von polizeilichen Verhörräumen. Er würde keinerlei Diebesgut mehr kaufen.
Seine Mutter schien mit der Entscheidung einverstanden zu sein. Hoffentlich hatte sie überhaupt
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