Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
Aufprall zerdetscht worden.
Die anderen Wunderdinge auf dieser Seite des Klärteichs waren ein kleiner Bauernhof, der anmutete wie ein geheimer Ort in der Großstadt, und ein Jamunpflaumenbaum, in dem Papageien nisteten. Ein paar andere Straßenjungen hatten die Papageien schon öfter eingefangen und auf dem Marol-Markt verkauft, aber Sunil machte Kalu klar, dass man die Vögel in Ruhe lassen sollte. Morgens beim Aufwachen horchte er als Erstes, ob sie noch krächzten und nicht über Nacht entführt worden waren. Kalu kam ihm immer vor wie der Papagei unter den Straßenjungen, obwohl sein älterer Kumpel in letzter Zeit kleinlauter zu werden schien. Auch die Filme, die er nachspielte, wurden düsterer.
Kalu war Spezialist für die Recyclingtonnen auf dem Gelände der Airline-Caterer. Die Container wurden regelmäßig von privaten Verwertern geleert, aber Kalu hatte alle Abholzeiten im Kopf. In der Nacht, bevor die Müllwagen kamen, kletterte er über den Stacheldraht und plünderte die überquellenden Tonnen. Er hatte vom Firmengelände von Chef Air, Taj Catering, Oberoi Flight Services und Skygourmet ganze ausrangierte Aluminiumtabletts abgeschleppt. Die Oberoi-Container, erzählte er, waren am schärfsten bewacht.
Aber dann hatte die Polizei von Kalus Geschäften Wind gekriegt. Er wurde immer wieder geschnappt, bis ihm ein paar Constables ein Arrangement vorschlugen. Er dürfe sein Blechzeugs behalten, wenn er der Polizei berichte, was er auf der Straße an Informationen über örtliche Drogendealer aufschnappe.
Ganesh Anna, ein Dealer im weißen Anzug, betrieb am Flughafen einen schwunghaften Kokainhandel und ließ seine Vorräte zweimal pro Woche von ein paar Zwischenhändlern – lauter Annawadier Anfang zwanzig – aus einem anderen Stadtteil abholen. Natürlich schmierte Ganesh Anna längst die Polizei, damit sie ihm vom Hals blieb, aber ein paar Constables waren unzufrieden mit ihrem Anteil. Im Tausch gegen brauchbare Informationen über Ort und Zeit der Drogenlieferungen würden sie Kalu in Ruhe die Mülltonnen plündern lassen. Kalu hatte einen Zettel mit den Handynummern der Polizisten in der Seitentasche seiner Hose – der Cargojeans, die Mirchi abgelegt hatte, rot-braunes Tarnmuster.
Kalu hatte vor der Polizei genauso viel Angst wie vor Ganesh Anna. Er fühlte sich wie ein Köderfischchen. Er spielte jetzt immer wieder
Prem Patigyaa
nach, in dem Film gab es einen Slumganoven, der das Gefühl hat, nie mehr aus dieser Art Leben rauszukommen, und just als er beschließt, sich totzusaufen – erscheint die strahlend schöne Madhuri Dixit und schreitet zu seiner Rettung. Kalu trieb sich regelmäßig bei den Mädchen herum, die vor den Wasserpumpen warteten, und er hielt es für ebenso unwahrscheinlich wie Sunil, dass hier in Annawadi plötzlich ein neues Mädchen aufkreuzte und ihn à la Madhuri aus seinen Verstrickungen befreite. Es war sicherer, ganz aus Mumbai zu verschwinden, und da sein Vater nicht bei der Familie lebte, hatte er auch einen plausiblen Fluchtort.
Sein Vater und sein älterer Bruder waren Wanderrohrleger und wohnten in einem Nachbarslum, der nicht gerade rutschfest an einem Hügel klebte. Kalu weinte manchmal darüber, wie unerwünscht er sich in dem Zuhause gefühlt hatte, bevor er sein Straßenleben rund um Annawadi aufgenommen hatte. »Ich bin in Sekundenschnelle erwachsen geworden, als meine Mutter gestorben ist«, erzählte er Sunil. »Mein Vater und mein Bruder haben mich nie verstanden.« Aber unverstanden zu sein war immer noch besser, als in der Zwickmühle zwischen einem Drogendealer und der Polizei zu sitzen. Sein Vater und sein Bruder sollten demnächst zu einem Neubauprojekt im Hügelland bei Karjat aufbrechen, zwei Stunden von Annawadi entfernt. Kalu hatte als Kind gelernt, wie man Rohre verlegt, und auf der Baustelle gab es bestimmt auch Arbeit für ihn.
Sunil war traurig, dass Kalu weg musste. Ohne ihn würde Annawadi viel von seiner Buntheit verlieren. Die hüftschwingende Theatralik, mit der Kalu
Om Shanti Om
nachspielte, und die so subtil unterhaltsamen, seinem jeweiligen Lieblingsfilm nachempfundenen Frisuren. In letzter Zeit hatte sich Kalu lange Strähnen wachsen lassen wie der irre Collegestudent, gespielt von Salman Khan in dem alten Film
Tere Naam.
Außerdem hatten Diebe wie Kalu ein Ansehen, das Müllsammler nicht hatten, und ohne Kalu war Sunil noch hoffnungsloser an sein Müllsucherdasein gebunden, so wie Sonu, der Zwinkerer – die Sorte Mensch,
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