Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben
zugehört. Sie wirkte wie abwesend vor lauter Erschöpfung, und sie hatte definitiv nicht zugehört, als er sie etwas später gefragt hatte, ob seine Leiden nicht mit einem iPod belohnt werden könnten.
Die Müllsucher fanden Abdul seit seiner Rückkehr aus Dongri erstaunlich gesprächig. Jetzt fragte er sie an der Waage immer aus, ob sie ihre Ware ehrlich erworben hatten. Zwischen seine neuen, inquisitorischen Verhandlungsrunden streute er bizarre kleine Vorbemerkungen: »Soll ich dir mal was sagen?« Oder: »Eins muss ich dir mal sagen.« Um danach endlos über einen Lehrer in Dongri zu plaudern, der in seinem, Abduls, Charakter den feinen, anständigen Zug entdeckt habe,
taufeez
nämlich.
Er behauptete auch, ständig mit dem Master zu sprechen – der Mann sei so hingerissen von ihm gewesen, dass er ihm seine Handynummer gegeben habe. Alle wussten, dass Abdul log. Die Straßenjungen hatten nichts gegen Schwindeleien, überbordende Phantasie war ein guter Zeitvertreib. Sie fanden es nur ziemlich komisch, dass Abdul ihnen ausgerechnet etwas über eine Freundschaft mit einem Lehrer vorlog. Der einzige andere Junge, der solche Verlierermärchen erzählte, war Sunil, der tat gegenüber neuen Jungen immer gern, als sei er im fünften Schuljahr und Klassenprimus.
Das Publikum für Abduls Storys über den Master bekam Zuwachs, als sein Halb-Freund Kalu Mitte September von der Baustelle in Karjat zurückkehrte. Kalu hatte zugenommen, Erase-X war außerhalb von Mumbai Mangelware.
Zehrunisa war überrascht, dass Kalu so schnell wieder da war. Sie rief ihn in die Hütte und servierte ihm ein Resteessen, jetzt im Ramadanmonat blieb mehr übrig als sonst, weil die Husains fasteten. Zehrunisa hatte Kalu gern, sie fand, er brauche Bemutterung. Kalu wollte das nicht bestreiten. Seit einem Jahr nannte er sie sogar
amma,
Mutter – eine Art Zärtlichkeit, die Abdul etwas unruhig machte.
»Und dein Vater ist noch in den Bergen?«, fragte sie.
»Ja,
amma,
aber ich musste da weg. Ich will doch jetzt nicht auf dem Land sein.« Denn jetzt waren überall in Mumbai die schwindelerregenden Feierlichkeiten zu Ehren seines geliebten Ganesha in vollem Gang. Übermorgen würden Millionen Menschen aus der ganzen Stadt unter Trommelrhythmen und Jubelrufen mit Liebe gebastelte Kultbilder des Elefantengottes zum Strand tragen und im Meer versenken. Umweltschützer sahen die Zeremonie sehr kritisch, aber für Kalu war sie der Höhepunkt des Jahres.
»Du hätt’st da bleiben sollen«, mahnte Zehrunisa. »Ich erkenn dich kaum wieder, so gesund siehst du aus. Warum lässt du deinen Vater einfach so links liegen? Hier rutschst du doch bloß wieder zurück in deine alten Unarten.«
»Ich werd nicht wieder stehlen«, versprach Kalu. »Ich hab mich gebessert, ich bin jetzt gut, siehst du das nicht?«
»Na ja, jetzt vielleicht«, stimmte Zehrunisa zu. »Aber kann ein Dieb sich wirklich ändern? Falls ja, ist mir das entgangen.«
Am nächsten Tag waren Kalu und Sunil auf der Jagd nach Abfällen gemeinsam am Flughafen unterwegs. Abends verkauften sie Abdul ihre Ausbeute, danach hockten sie mit ihm zusammen vor der Spielbude herum. Zu dritt hechelten sie die üblichen Gesprächsthemen durch – Essen, Filme, Mädchen, die Müllpreise –, als Mahmoud, ein zugedröhnter behinderter Junge mit glasigen Augen, plötzlich einfach so und aus Gründen, die nur er kannte, Abdul einen Hieb auf die Brust verpasste. Noch so ein rasendes Einbein. Natürlich schlug Abdul nicht zurück. Er ging nach Hause, schlafen. Sunil auch.
Kalu hatte kein Zuhause, in das er sich zurückziehen konnte. Er machte sich auf den Weg zum Flughafen, durch den Durchgang in Richtung der leuchtenden blauen Schilder, die zum internationalen Terminal führten. ANKUNFT unten. ABFLUG oben. GLÜCKLICHE REISE.
Am nächsten Morgen lag Kalu vor den rot-weißen Toren zum Air-India-Gelände: ohne Hemd, die Salman-Khan-Strähnen ausgewachsen, zusammengekrümmt hinter einer blühenden Hecke.
11. Richtig schlafen
E in bulliger, schnauzbärtiger Constable namens Nagare fuhr mit dem Motorrad nach Annawadi, auf seinem Rücksitz schaukelte der behinderte Junkie, der Abdul am Abend vorher geboxt hatte. Das Motorrad bremste scharf vor Zehrunisa, die gerade mit einem Müllsucher feilschte. Sie fing an zu zittern, als sie das Gesicht des Constables sah. Dieser Nagare guckte nicht, wie Polizisten normalerweise guckten, wenn sie Geld wollten. Er hatte ein angespanntes, böses Gesicht, das sie
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