Anne auf Green Gables
gut mit mir meinten.«
Marilla fragte nicht weiter. Geistesabwesend lenkte sie die Stute an der Küste entlang und versank in tiefes Grübeln. Ihr wurde ganz weich ums Herz, als sie sich vorstellte, wie ausgehungert nach Liebe dieses kleine Wesen sein musste, dessen Dasein bisher nur aus harter Arbeit, Armut und Entbehrung bestanden hatte. Marilla war klug genug, um zwischen den Zeilen von Annes Bericht lesen zu können. Kein Wunder, dass die Aussicht auf ein wirkliches Zuhause so große Hoffnungen in dem Kind geweckt hatte. Eigentlich war es schade, sie wieder zurückschicken zu müssen. Und wenn sie Matthews unerklärlicher Laune nachgeben und die Kleine doch behalten würde? Offensichtlich hatte er sein Herz daran gehängt und Anne schien ein nettes, lernfähiges Kind zu sein.
Sie redet ein bisschen viel, dachte Marilla, aber das kann man ihr vielleicht noch abgewöhnen. Außerdem ist an dem, was sie sagt, nichts Gemeines oder Unerzogenes. Eigentlich spricht sie fast wie eine kleine Dame. Und sie scheint aus einer guten, anständigen Familie zu stammen.
Während Marilla mit ihren Gedanken beschäftigt war, bewunderte Anne mit großen Augen die schöne Landschaft. Auf der einen Seite der Straße fielen rote Sandsteinfelsen steil zum Ufer hinab. Am Fuß der Felsen lagen kleine sandige Buchten, an deren Rand sich ausgewaschene Steine häuften. Dahinter schimmerte blau die See. Die Flügel der Möwen glänzten silbrig in der Nachmittagssonne.
»Ist das Meer nicht wunderschön?«, brach Anne ihr andächtig staunendes Schweigen. »Als ich noch in Maryville gewohnt habe, hat Mr Thomas einmal mit uns allen einen Ausflug an die Küste gemacht. Ich habe jede Sekunde davon genossen, obwohl ich die ganze Zeit auf die Kinder aufpassen musste. Seitdem habe ich mir den Tag wohl tausendmal in Erinnerung gerufen. Hier ist die Küste aber noch viel schöner als in Maryville. - Würden Sie auch so gern eine Möwe sein wie ich? Ach, es muss wunderschön sein, den Tag mit einem Sturzflug von den roten Felsen zu beginnen, stundenlang über dem blauen Wasser zu schweben und nachts ins eigene Nest zurückzukehren! Was für ein großes Haus ist das da vorne, Miss Cuthbert?«
»Das ist das White Sands Hotel. Die Saison hat noch nicht begonnen, aber im Sommer kommen jede Menge Amerikaner hierher. Sie lieben die Küste.«
»Und ich hatte schon befürchtet, es wäre Mrs Spencers Haus«, sagte Anne traurig. »Von mir aus brauchten wir überhaupt nicht dort anzukommen. Unsere Ankunft wird für mich der Anfang vom Ende sein.«
06 - Marilla fasst einen Entschluss
Die Ankunft in White Sands ließ sich allerdings nicht vermeiden -schon nach kurzer Zeit erreichten Marilla und Anne das Ziel ihrer Reise. Mrs Spencer trafen sie vor ihrem großen gelben Haus in der Bucht von White Sands. Erstaunen und Freude über den unerwarteten Besuch standen auf ihrem gütigen Gesicht geschrieben.
»Na, so was!«, rief sie aus. »Euch hätte ich heute am allerwenigsten erwartet! Aber ich freue mich, euch zu sehen. Wollt ihr euer Pferd unterstellen? Wie geht es dir, Anne?«
»Den Umständen entsprechend gut, danke«, sagte Anne, ohne zu lächeln. Alle Lebensfreude schien aus ihrem Gesicht gewichen zu sein. »Es ist nämlich so, Mrs Spencer«, ergriff Marilla das Wort, »es muss zwischen uns ein Missverständnis gegeben haben und wir sind herübergekommen, um die Sache aufzuklären. Matthew und ich hatten Ihrem Bruder Robert gesagt, dass wir einen Jungen möchten.«
»Was sagen Sie da, Marilla?«, rief Mrs Spencer überrascht. »Robert hat seine Tochter Nancy vorbeigeschickt und sie hat ausdrücklich nach einem Mädchen für Sie verlangt — war es nicht so, Flora Jane?«, wandte sie sich an ihre Tochter, die nun ebenfalls vor die Tür getreten war.
»Ja, so war es«, bestätigte Flora Jane.
»Es tut mir außerordentlich Leid«, sagte Mrs Spencer, »aber es war sicherlich nicht mein Fehler, Marilla. Ich habe nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Nancy ist manchmal so gedankenlos. Ich musste sie schon oft wegen ihrer Leichtfertigkeit tadeln.«
»Es war wohl unser Fehler«, erwiderte Marilla verdrossen. »Wir hätten selbst zu Ihnen kommen sollen, anstatt eine so wichtige Botschaft von anderen übermitteln zu lassen. Es war einfach ein Missverständnis und zum Glück lässt sich die Sache ja bestimmt wieder ins Lot bringen. Das Waisenhaus wird das Kind doch wieder aufnehmen?«
»Das müssen sie wohl«, sagte Mrs Spencer nachdenklich, »aber ich
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