Anne auf Green Gables
unerschütterlich in ihrem Zorn. Mit erhobenem Kopf und verschränkten Armen stand sie da. Ihre Augen funkelten vor Empörung.
»Wie können Sie es wagen, so etwas über mich zu sagen?«, wiederholte sie leidenschaftlich. »Was würden Sie denken, wenn jemand solche hässlichen Dinge über Sie sagen würde? Wenn jemand Sie eine alte Vettel nennen würde, die keinen Funken Phantasie hat? Es ist mir egal, ob ich Sie damit kränke. Ich hoffe, ich habe Sie gekränkt, denn Sie haben mich schlimmer getroffen als irgendjemand zuvor in meinem Leben - Mr Thomas, der Säufer, eingeschlossen. Und ich werde Ihnen niemals verzeihen. Niemals!«
»Anne, geh in dein Zimmer und rühr dich nicht von der Stelle, bis ich zu dir komme«, befahl Marilla, als sie die Sprache wieder gefunden hatte.
Anne brach in Tränen aus, schlug mit einem lauten Knall die Küchentür zu und floh wie ein Wirbelwind die Treppe zum Ostgiebel empor. Ein weiterer Knall zeigte an, dass sie die Tür zu ihrem Zimmer mit gleicher Gewalt zugeschlagen hatte.
»Nun, ich beneide dich nicht um die Aufgabe, diesen »kleinen Sonnenschein« aufzuziehen«, sagte Mrs Rachel kühl.
Marilla wollte zu einer ausführlichen Entschuldigung ansetzen. Von dem, was sie dann schließlich wirklich sagte, war sie selbst am allermeisten überrascht.
»Du hättest sie nicht mit ihrem Aussehen aufziehen dürfen, Rachel.«
»Marilla Cuthbert, du willst doch wohl nicht etwa diesen unglaublichen Auftritt von eben auch noch verteidigen?«, entrüstete sich Mrs Rachel.
»Nein«, antwortete Marilla bedächtig, »ich will Anne nicht in Schutz nehmen. Sie war sehr ungezogen und ich werde ernsthaft mit ihr reden müssen. Aber wir müssen ihr mildernde Umstände zugestehen. Bisher hat ihr niemand beigebracht, was sich gehört und was nicht. Und du hast sie herausgefordert, Rachel.«
Sichtlich gekränkt stand Mrs Rachel auf. »Nun, ich sehe schon, ich werde ab heute meine Worte auf die Goldwaage legen müssen, da die Gefühle irgendwelcher dahergelaufener Waisenkinder bei dir jetzt offensichtlich höher im Kurs stehen als Sitte und Anstand. Oh, nein, ich bin nicht böse - mach dir nur keine Sorgen. Du tust mir viel zu Leid, als dass ich irgendeinen Zorn gegen dich hegen könnte. Du wirst noch genug Sorgen mit dem Kind haben. Aber wenn du mich um Rat fragst - was du wahrscheinlich nicht tun wirst, obgleich ich zehn Kinder aufgezogen und zwei begraben habe —, würde ich mir für das >Mit-ihr-Reden< eine kräftige Birkenrute besorgen. Das ist die einzige Sprache, die diese Kinder verstehen - jawohl! Wahrscheinlich entspricht ihr Wesen ihrer Haarfarbe ... Also dann, auf Wiedersehen, Marilla. Ich hoffe, du kommst mich in Zukunft genauso oft besuchen wie früher. Aber du kannst nicht von mir erwarten, dass ich noch mal den Fuß über die Schwelle eines Hauses setze, in dem man mich derart beschimpft und beleidigt hat. So etwas habe ich ja noch nie erlebt. Ich bin entsetzt!«
Damit rauschte sie durch die Tür ins Freie und Marilla stieg mit finsterer Miene in den Ostgiebel hinauf.
Auf dem Weg nach oben dachte sie angestrengt darüber nach, was sie tun sollte. Was sich da eben abgespielt hatte, war ihr äußerst unangenehm. Ausgerechnet mit Rachel Lynde musste Anne Zusammenstößen! Wie sollte sie Anne bloß bestrafen? Der liebenswürdige Vorschlag, eine Birkenrute zu benutzen - eine Erziehungsmethode, von deren Wirksamkeit Mrs Rachels zahlreiche Kinder ein Liedchen singen konnten war für Marilla nicht geeignet. Sie konnte sich nicht vorstellen, ein Kind zu schlagen. Nein, sie musste eine andere Strafe finden, die Anne das ungeheure Ausmaß ihres Vergehens eindringlich ins Bewusstsein rufen würde.
Als Marilla das Zimmer betrat, lag Anne mit dem Gesicht nach unten auf ihrem Bett und weinte bitterlich. Um ihre dreckigen Stiefel auf der Tagesdecke schien sie sich nicht zu scheren.
»Anne!« Marillas Stimme klang nicht unfreundlich.
Keine Antwort.
»Anne!«, wiederholte Marilla mit etwas mehr Nachdruck. »Komm sofort vom Bett herunter und hör zu, was ich dir zu sagen habe.« Unwillig stand Anne auf und setzte sich auf den Stuhl neben ihrem Tisch. Ihr tränenüberströmtes Gesicht war rot geschwollen, sie schaute trotzig vor sich auf den Boden.
»Das war ja ein schönes Benehmen, das du da gezeigt hast, Anne! Schämst du dich denn gar nicht?«
»Sie hatte kein Recht, mich spindeldürr zu nennen und sich über meine Sommersprossen und meine roten Haare lustig zu machen«, entgegnete Anne
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