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Anne auf Green Gables

Anne auf Green Gables

Titel: Anne auf Green Gables Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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Miene. Sie fand Anne reglos vor einem Bild, das zwischen den beiden Fenstern an der Wand hing. Mit erhobenem Kopf und hinter dem Rücken verschränkten Händen stand sie da, in andächtigem Träumen versunken.
    »Anne, was tust du da?«, fragte Marilla mit scharfer Stimme.
    Anne fuhr heftig zusammen und kehrte in die Wirklichkeit zurück. »Da!«, sagte sie dann und zeigte auf das farbige Bild mit dem Titel »Jesus segnet die Kinder«. »Ich habe mir gerade vorgestellt, ich wäre eines von ihnen - dort, das kleine Mädchen in dem blauen Kleid, das ganz allein in der Ecke steht und zu niemandem zu gehören scheint, genau wie ich. Es sieht so einsam und traurig aus, findest du nicht? Wahrscheinlich hat es auch keine Mutter und keinen Vater mehr. Aber es möchte auch gesegnet werden, also schleicht es sich vorsichtig an die Menge heran und hofft, dass niemand es sieht - außer Jesus. Ach, ich weiß so gut, wie ihm zu Mute ist. Sein Herz schlägt ihm bis zum Hals und seine Hände werden ganz kalt - genau wie meine, als ich dich gefragt habe, ob ich auf Green Gables bleiben darf. Zuerst hat es Angst, dass Jesus es vielleicht gar nicht sieht. Aber bestimmt hat er es gesehen, meinst du nicht auch? Ich habe versucht, es mir alles genau vorzustellen - wie das Mädchen sich immer näher an ihn heranschiebt, bis es ganz nah bei ihm steht, und wie er es dann anschaut und ihm seine Hand auf die Schulter legt. Ich wünschte bloß, der Maler hätte Jesus nicht ein so trauriges Gesicht gegeben. Auf allen Bildern sieht er so aus, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Jesus wirklich so traurig aussah: Die Kinder hätten ja Angst vor ihm bekommen.«
    »Anne«, sagte Marilla und wunderte sich, warum sie diesen Redeschwall nicht schon früher unterbrochen hatte, »über solche Dinge spricht man nicht in einem so vertraulichen Tonfall. Und noch etwas, Anne: Wenn ich dich nach etwas schicke, dann möchte ich auch, dass du es mir sofort bringst, ohne in irgendwelche Träume oder Phantastereien zu verfallen. Merk dir das! Nimm die Karte und komm zurück in die Küche. Setzt dich in die Ecke und lerne das Gebet auswendig.« Zurück in der Küche, stellte Anne die Karte gegen eine Vase mit blühenden Apfelzweigen, die sie mit hereingebracht hatte, um den Esstisch zu schmücken. Sie stützte ihr Kinn auf beide Hände und studierte mehrere Minuten lang schweigend den Text.
    »Es gefällt mir sehr. >Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name . . .< Das klingt ja wie die schönste Musik. Ach, ich bin so froh, dass Sie ... ich meine, dass du mich das lernen lässt, Marilla.«
    Anne zog die Vase mit den Apfelblüten so nahe heran, dass sie auf eine der rosa Knospen einen zarten Kuss drücken konnte, und vertiefte sich dann wieder für kurze Zeit in ihr Studium.
    »Marilla«, wollte sie plötzlich wissen, »glaubst du, dass ich in Avonlea jemals eine Busenfreundin finden werde?«
    »Eine was?«
    »Eine Busenfreundin - eine wirklich verwandte Seele, der ich mein Herz anvertrauen kann. Davon träume ich schon mein ganzes Leben lang. Ich habe zwar nie geglaubt, dass ich wirklich einmal eine Busenfreundin finden könnte, aber in den letzten Tagen sind so viele meiner Träume wahr geworden, dass sich dieser vielleicht auch noch erfüllen könnte. Hältst du das für möglich?«
    »Diana Barry drüben auf Orchard Slope ist ungefähr in deinem Alter. Sie ist ein sehr nettes kleines Mädchen. Vielleicht kannst du mit ihr spielen, wenn sie wieder nach Hause kommt. Zur Zeit ist sie noch zu Besuch bei ihrer Tante in Carmody. Aber du musst gut aufpassen: Mrs Barry ist eine strenge Frau, mit ihr ist nicht zu spaßen. Sie lässt ihre kleine Diana nur mit Kindern spielen, die besonders brav und artig sind.«
    Annes Wangen glühte. »Wie sieht Diana aus?«
    »Sie ist ein hübsches kleines Mädchen. Sie hat schwarze Augen und Haare und rosige Wangen. Und sie ist brav und fleißig, was sehr viel wichtiger ist.«
    »Ach, ich bin so froh, dass sie hübsch ist! Wenn man selbst hässlich ist, dann tut es doppelt gut, eine hübsche Busenfreundin zu haben. Die einzige Freundin, die ich je hatte, war Katie, meine >Fensterfreundin<. In Mrs Thomas’ Wohnzimmer stand ein Bücherschrank mit Glastüren, musst du wissen. Bücher hatte Mrs Thomas zwar keine, aber sie bewahrte ihr gutes Porzellan und ihr Eingemachtes in dem Schrank auf. Ihr Mann hatte die eine Tür zerschlagen, als er einmal nachts betrunken nach Hause gekommen war, aber die andere Tür war

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