Anne auf Green Gables
balancieren?«
»Ich wäre auf dem festen, sicheren Erdboden geblieben und hätte die anderen balancieren lassen.«
Anne seufzte. »Du hast so viel Willenskraft, Marilla. Ich habe gar keine. Ich hatte nur das Gefühl, dass ich Josie Pyes Gespött nicht ertragen könnte. Sie hätte mich mein ganzes Leben lang damit aufgezogen. Und ich glaube, ich bin schon genug bestraft worden, du brauchst mir nicht mehr böse zu sein. Es ist nämlich überhaupt nicht schön, in Ohnmacht zu fallen. Und der Doktor hat mir fürchterlich weh getan, als er meinen Knöchel geschient hat. Ich kann sechs oder sieben Wochen lang nicht laufen, ich werde also auch den Schulanfang verpassen - ausgerechnet jetzt, wo wir eine neue Lehrerin bekommen. Mrs Allan hat mir erzählt, sie hieße Miss Muriel Stacy. Ist das nicht ein wunderschöner Name? - Gil... ich meine, die anderen werden mir schon weit voraus sein, wenn ich wieder zur Schule gehen kann. Ach, ich werde vom Unglück verfolgt! Aber ich werde versuchen, alles tapfer zu ertragen, wenn du mir nur nicht böse bist, Manila.«
»Nein, nein, ich bin dir nicht böse«, beruhigte Marilla sie. »Du bist ein rechter Pechvogel, daran gibt es gar keinen Zweifel. Komm, ich habe dir etwas zu essen mitgebracht.«
»Zum Glück habe ich viel Phantasie«, bemerkte Anne nach einer Weile. »Die werde ich jetzt bestimmt gut gebrauchen können. Was machen bloß all die Leute, die keinen Funken Phantasie besitzen, wenn sie sich die Knochen brechen, Marilla?«
Anne hatte in den nun folgenden sieben langen Wochen allen Grund, für ihre Phantasie dankbar zu sein. Aber sie brauchte sich nicht gänzlich auf sie zu beschränken. Sie bekam viel Besuch und es verging kaum ein Tag, an dem nicht eine ihrer Mitschülerinnen vorbeischaute, ihr ein paar Blumen oder Bücher mitbrachte und ihr von den Neuigkeiten in der Schule erzählte.
»Alle sind so gut und lieb zu mir gewesen, Marilla«, seufzte Anne glücklich, als sie zum ersten Mal mit ihrer Hilfe durchs Zimmer humpeln konnte. »Es ist zwar nicht gerade angenehm, krank im Bett zu liegen, aber es hat auch seine guten Seiten: Man merkt auf einmal, wie viele Freunde man hat. Selbst Superintendent Bell hat mich besucht. Er ist wirklich ein ganz netter Mensch - keine verwandte Seele zwar, aber ich mag ihn trotzdem. Er hat mir erzählt, wie er sich als kleiner Junge auch einmal den Knöchel gebrochen hat. Allerdings bin ich da an eine Grenze meiner Phantasie gestoßen. Wenn ich mir Superintendent Bell als kleinen Jungen vorstelle, trägt er immer noch seinen grauen Schnurrbart und seine Brille. Sich Mrs Allan als kleines Mädchen vorzustellen ist da viel einfacher. Mrs Allan hat mich vierzehnmal besucht, war das nicht lieb von ihr, Marilla? Wo eine Pfarrersfrau doch so viele Pflichten hat! Sogar Josie Pye ist mich besuchen gekommen. Ich habe sie so höflich wie möglich empfangen. Ich glaube, es hat ihr ehrlich Leid getan, dass sie mir eine so gefährliche Mutprobe gestellt hatte. Wäre ich dabei umgekommen, hätte die Reue über diese Tat ihr ganzes Leben überschattet.
Diana war eine treue Freundin. Sie ist jeden Tag bei mir gewesen, um mir die Zeit zu vertreiben. Aber ich werde froh sein, wenn ich endlich wieder in die Schule gehen kann. Ich habe so aufregende Sachen von unserer neuen Lehrerin gehört. Die Mädchen schwärmen alle für sie und Diana sagt, sie hat wunderschönes blondes, lockiges Haar und ausdrucksvolle Augen. Sie trägt die besten Kleider und hat die größten Puffärmel von ganz Avonlea. Jeden Freitagnachmittag lässt sie Gedichte und kleine Theaterstücke vortragen. Ach, das muss himmlisch sein! Josie Pye meint, sie könnte es nicht ausstehen, aber das kommt bestimmt nur daher, weil sie so phantasielos ist. Diana, Ruby Gillis und Jane Andrews bereiten gerade ein Stück für nächsten Freitag vor. Miss Stacy ist auch schon mehrmals mit den Schülern nach draußen gegangen und hat mit ihnen die Gräser, Blumen und Vögel untersucht. Jeden Morgen und jeden Nachmittag gibt es Gymnastik. Mrs Lynde sagt, so etwas hätte sie noch nie gehört - das käme davon, wenn man eine Lehrerin einstellt. Aber ich stelle es mir wunderbar vor und ich wette, Miss Stacy ist eine verwandte Seele.«
»Eines ist jedenfalls klar, Anne«, sagte Marilla. »Die Zunge hast du dir nicht verstaucht, als du von Mr Barrys Dachfirst gefallen bist.«
21 - Große Vorbereitungen werden getroffen
Es war Oktober, als Anne endlich wieder in die Schule gehen konnte — und ein
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