Anne auf Green Gables
ganzen Sache.«
»Aber denk doch nur an den guten Zweck«, wandte Anne ein. »Eine neue Flagge für unser Schulhaus! Ist das nicht richtig patriotisch?«
»Dummes Zeug! Euch geht es doch nicht um Patriotismus. Ihr wollt nur euer Vergnügen haben.«
»Und wenn sich nun Patriotismus und Vergnügen verbinden lassen? Natürlich macht es Spaß, so einen Abend vorzubereiten. Der Chor wird sechs Lieder singen, Diana wird sogar mit einem Solo auftreten. Zwei kleine Stücke werden aufgeführt und ich werde zwei Gedichte vortragen, Marilla. Ich zittere am ganzen Leibe, wenn ich nur daran denke, aber es ist das freudigste Zittern, das man sich vorstellen kann. Am Schluss soll ein >liebendes Bild< gezeigt werden; es heißt >Glaube, Hoffnung und Nächstenliebe< Diana, Ruby und ich sind die Darstellerinnen. Wie tragen weiße Gewänder und offene Haare. Ich werde die Hoffnung sein ... die Hände falten ... schau, so ... und meine Augen zum Himmel richten. Oben in der Dachkammer werde ich jetzt immer meine Gedichte üben. Erschrick nicht, wenn du mich laut seufzen hörst, ich muss nämlich bei einem der Gedichte herzzerreißend seufzen, Marilla. -Josie Pye ist beleidigt, weil sie in einem der Stücke nicht die Rolle bekommen hat, die sie eigentlich spielen wollte. Aber sie könnte ja auch unmöglich die Feenkönigin spielen — oder hast du schon mal eine pummelige Feenkönigin gesehen? Jane Andrews hat jetzt die Rolle übernommen, ich spiele eines der Mädchen in ihrem Gefolge. Josie meint, eine rothaarige Fee wäre mindestens so lächerlich wie eine dicke, aber mir ist ganz egal, was Josie Pye meint. Ich werde einen Kranz weißer Rosen im Haar tragen. Ruby Gillis leiht mir ihre weißen Sandalen - eine Fee kann ja schließlich nicht in Stiefeln durch den Wald schweben, oder? - Den Saal wollen wir mit Zweigen und Papierblumen schmücken, und während das Publikum schon auf seinen Stühlen sitzt und Emma White auf der Orgel einen Marsch spielt, werden wir in Zweierreihen hereinkommen. Oh, Marilla, ich weiß genau, dass du dich über das alles nicht so begeistern kannst wie ich. Aber hoffst du nicht auch ein bisschen, dass deine kleine Anne vor dem Publikum bestehen wird?«
»Alles, was ich hoffe, ist, dass du dich anständig benimmst. Ich bin froh, wenn die ganze Aufregung vorüber ist und du dich wieder beruhigt hast. Wenn dein Kopf voll mit Stücken, Seufzern und >liebenden Bildern< ist, bist du zu nichts Vernünftigem zu gebrauchen.«
Anne zuckte ratlos mit den Schultern und begab sich in den Hinterhof, wo ein voller Mond durch die kahlen Pappeln schien, In seinem Licht spaltete Matthew Brennholz. Anne hockte sich auf einen dicken Holzstamm in seiner Nähe und sprach den ganzen Abend noch einmal mit ihm durch. Sie wusste, dass Matthew immer ein offenes Ohr und ein mitfühlendes Herz hatte.
»Nun, ich glaube, das wird ein schöner Abend werden. Und ich hoffe, dass du deine Sache gut machst«, sagte er schließlich und lächelte sie liebevoll an. Anne erwiderte sein Lächeln. Die beiden waren die besten Freunde und Matthew dankte insgeheim dem Schicksal, dass er nicht für Annes Erziehung verantwortlich war. Zum Glück war das Marillas Aufgabe. Hätte er sich daran beteiligen müssen, wäre er schon mehr als einmal in einen tiefen Zwiespalt zwischen Pflicht und Gefühlen geraten. Doch so, wie die Dinge lagen, konnte er Anne in aller Ruhe »verwöhnen«, wie Marilla sich ausdrückte. Alles in allem war das keine schlechte Regelung: Verwöhnen ist manchmal genauso wichtig wie eine gewissenhafte Erziehung.
22 - Matthew besteht auf Puffärmeln
Eines Abends im Dezember kam Matthew aus der Scheune in die warme Küche zurück und ließ sich auf der Brennholzkiste nieder, um seine schweren Stiefel abzustreifen. Erst jetzt bemerkte er, dass Anne und ihre Klassenkameradinnen im Wohnzimmer gegenüber eine Probe ihrer »Feenkönigin« abhielten. Sie waren gerade fertig geworden und kamen fröhlich lachend durch den Flur in die Küche gelaufen. Matthews Anwesenheit bemerkten sie nicht, denn er hatte sich - in der einen Hand einen Schuh, in der anderen den Stiefelknecht - in die dunkle Ecke hinter der Holzkiste zurückgezogen und beobachtete scheu, wie sich die Mädchen über den bevorstehenden Vortragsabend unterhielten und sich dabei ihre Mützen und Jacken anzogen. Anne bewegte sich unter ihnen ganz natürlich, ihre Augen strahlten genauso hell wie die der anderen Mädchen - doch irgendetwas an ihr war anders als bei ihren
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