Anne auf Green Gables
Klassenkameradinnen. Matthew hatte außerdem das Gefühl, dass es diesen Unterschied, der ihm so plötzlich zu Bewusstsein gekommen war, eigentlich nicht geben sollte. Aber worin bestand er?
Über diese Frage dachte Matthew noch lange nach, als die Mädchen schon längst nach Hause gegangen waren und Anne sich in ihre Bücher vertieft hatte. Mit Manila konnte er unmöglich darüber reden. Wahrscheinlich würde sie nur empört die Nase rümpfen und behaupten, der einzige Unterschied zwischen Anne und den anderen Mädchen bestehe darin, dass die anderen Mädchen ihren Mund hielten, während Anne wie ein Wasserfall plapperte. Aber das würde ihm auch nicht weiterhelfen.
Sehr zu Manilas Missvergnügen nahm er an jenem Abend zu seiner Pfeife Zuflucht, um besser nachdenken zu können. Nach zwei Stunden angestrengten Rauchens und Grübelns hatte Matthew die Lösung gefunden: Anne war anders angezogen als die anderen Mädchen!
Je mehr Matthew über die Sache nachdachte, desto überzeugter wurde er, dass dies schon immer der Fall gewesen war - jedenfalls solange Anne auf Green Gables wohnte. Marilla gab ihr schlichte, dunkle Kleider zum Anziehen, die sie alle nach dem gleichen einfachen Muster genäht hatte. Ob Matthew sich darüber im Klaren war, dass es so etwas wie Mode gab, mag dahingestellt bleiben; auf jeden Fall war er sich sicher, dass besonders die Ärmel von Annes Kleidern nicht so aussahen wie die der anderen Mädchen. Er rief sich die ganze Versammlung noch einmal in Erinnerung: Alle hatten sie farbenprächtige Kleider getragen - und er fragte sich, warum Marilla Anne wohl immer so schlicht kleidete.
Natürlich gab es dafür bestimmt gute Gründe. Marilla war schließlich für Annes Erziehung verantwortlich. Doch was auch immer für ein unerforschlicher, weiser Ratschluss dahinterstecken mochte - ein hübsches Kleid würde dem Kind bestimmt nicht schaden. Diana Barry trug schließlich ständig solche Kleider. Wenn er nun beschloss, Anne ein neues Kleid zu schenken, dann konnte das sicherlich nicht aus Verstoß gegen sein Versprechen ausgelegt werden, sich nicht in Annes Erziehung einzumischen. Bis Weihnachten waren es nur noch zwei Wochen. Ein hübsches neues Kleid wäre genau das richtige Geschenk. Mit einem befriedigten Seufzer legte Matthew seine Pfeife beiseite und ging zu Bett, während Marilla alle Türen und Fenster öffnete, um den Tabakrauch zu vertreiben.
Am nächsten Nachmittag fuhr Matthew nach Carmody, um ein Kleid für Anne zu kaufen. Je schneller er es hinter sich hatte, umso besser. Er wusste, dass er sich keine leichte Aufgabe gestellt hatte. Es gab Dinge, mit denen sich Matthew gut auskannte und über deren Preis er meisterlich verhandeln konnte — Kleider für Mädchen gehörten allerdings ganz bestimmt nicht dazu, in diesem Fall war er der Gnade des Ladenbesitzers hilflos ausgeliefert.
Nach langem Grübeln entschloss sich Matthew, diesmal in Samuel Lawsons Geschäft zu gehen anstatt in das von William Blair. Zwar waren die Cuthbert schon seit Menschengedenken Stammkunden bei William Blair, doch durch die Fensterscheibe konnte Matthew sehen, dass die beiden Töchter des Geschäftsinhabers an jenem Tag die Kunden bedienten, und mit diesen beiden jungen Damen konnte Matthew nur fertig werden, wenn er genau wusste, was er wollte, und geradewegs darauf zusteuern konnte. Bei einer Angelegenheit jedoch, die der Beratung und Erklärung bedurfte, hatte Matthew das dringende Bedürfnis, hinter dem Ladentisch einen Mann anzutreffen. Also ging er in den anderen Laden, wo Samuel oder sein Sohn ihn bedienen würden.
Matthew konnte natürlich nicht ahnen, dass Samuel erst vor kurzem eine neue Verkäuferin eingestellt hatte. Miss Harris war ein bildhübsches junges Ding mit einer modischen Frisur, ausdrucksvollen braunen Augen und einem atemberaubenden Lächeln. Bei ihrem Anblick geriet Matthew in schreckliche Bedrängnis.
»Was kann ich für Sie tun, Mr Cuthbert?«, fragte sie und sah ihn erwartungsvoll an.
»Haben Sie ... vielleicht... äh ... ich möchte ... eine Harke kaufen«, stammelte Matthew.
Miss Harris war erstaunt. Immerhin kam es ziemlich selten vor, dass ein Kunde mitten im Dezember ausgerechnet eine Harke verlangte. »Wir müssten noch eine oder zwei vom Sommer übrig haben«, antwortete sie schließlich, »aber sie sind oben im Lager. Ich werde einmal nachschauen. Einen Moment, bitte.«
Während ihrer Abwesenheit hatte Matthew etwas Zeit, um seine Kräfte für einen zweiten Anlauf zu
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