Anne auf Green Gables
Balancieren auf Dachfirsten eine Sache war, bei dem einem selbst die blühendste Phantasie nichts mehr nützte. Doch immerhin - sie kam einige Schritte vorwärts, bevor die Katastrophe ihren Lauf nahm. Dann fing sie an zu schwanken, verlor das Gleichgewicht, stolperte, rutschte schließlich über das schräge Dach nach unten und stürzte mit einem lauten Aufschrei in die Tiefe. Das alles geschah so schnell, dass ihre entsetzten Klassenkameradinnen erst jetzt einen Schreckensschrei von sich geben konnten.
Wäre Anne an der Seite des Daches hinuntergefallen, an der sie auch hinaufgeklettert war, wäre Diana mit ziemlicher Sicherheit rechtmäßige Erbin eines Perlenrings geworden. Doch zum Glück war sie zu der Seite gefallen, an der das Dach bis tief über die Veranda reichte, sodass der Sturz nicht ganz so gefährlich war.
Als Diana und die anderen Mädchen um das Haus gelaufen kamen, fanden sie Anne ganz bleich und schlaff am Boden liegend vor. »Anne, bist du tot?«, schrie Diana und warf sich schluchzend neben ihre Freundin auf die Knie. »Oh, Anne, liebe Anne, sag doch was! Sag, dass du lebst, Anne!«
Zur riesengroßen Erleichterung aller Mädchen - ganz besonders Josie Pyes, die sich, obwohl sie nicht gerade mit Phantasie gesegnet war, bereits in den schrecklichsten Farben ausgemalt hatte, wie es sein würde, ein Leben lang als das Mädchen zu gelten, das Anne Shirleys frühen, tragischen Tod herbeigeführt hatte - setzte sich Anne vorsichtig auf und sagte mit schwacher Stimme. »Nein, Diana, ich bin nicht tot. Aber ich glaube, ich habe mich verletzt.«
»Wo?«, schluchzte Carrie Sloane. »Wo denn, Anne?«
Doch bevor Anne antworten konnte, erschien Mrs Barry auf der Bildfläche. Anne versuchte auf die Beine zu kommen, sank jedoch mit einem lauten Schmerzensschrei wieder zurück auf den Boden.
»Was geht hier vor? Hast du dir weh getan?«, wollte Mrs Barry wissen.
»Mein ... Fuß ...«, stammelte Anne. »Bitte, Diana, hol deinen Vater und frag ihn, ob er mich nach Hause bringen kann. Ich fürchte, ich kann keinen einzigen Schritt mehr tun. Und ich glaube auch nicht, dass ich den ganzen Weg auf einem Bein hüpfen kann, wenn Jane es nicht einmal ganz um den Garten herum geschafft hat.«
Marilla war gerade beim Äpfeipflücken im Obstgarten, als sie Mr Barry, seine Frau und eine ganze Prozession von Mädchen über die Holzbrücke kommen sah. Auf dem Arm trug Mr Barry die kleine Anne, deren Kopf schlaff gegen seine Schulter baumelte.
Dieser Moment war wie eine Offenbarung für Marilla. Der plötzliche stechende Schmerz in ihrer Brust zeigte ihr, wie viel Anne ihr mittlerweile bedeutete. Bisher hatte sie immer gesagt, dass sie Anne mochte oder sie sehr gern hatte. Aber als sie jetzt mit großen Schritten den Abhang zur Brücke hinunterlief, wusste sie, dass Anne ihr lieber geworden war als alles andere auf der Welt.
»Mr Barry, ist ihr etwas zugestoßen?«, rief sie aufgeregt. Ihr Gesicht war blasser, als man das bei der stets so beherrschten, vernünftigen Marilla seit Jahren gesehen hatte.
Anne hob mühsam den Kopf. »Keine Angst, Marilla, ich bin nur vom Dachfirst gefallen und habe mir den Fuß verstaucht. Aber ich hätte mir natürlich genauso das Genick brechen können. Lass es uns von dieser Seite betrachten.«
»Ich hätte wissen müssen, dass du wieder irgendeinen Unfug anstellst, wenn ich dich auf die Party gehen lasse«, sagte Marilla streng und doch spürbar erleichtert. »Bringen Sie sie herein, Mr Barry, und legen Sie sie auf das Sofa. Ach, du liebe Güte, das Kind ist in Ohnmacht gefallen!«
Von Schmerz und Aufregung überwältigt, hatte Anne das Bewusstsein verloren - ein alter Traum von ihr war in Erfüllung gegangen. Matthew, der eilig vom Feld herbeigelaufen kam, holte den Doktor, der nach kurzer Untersuchung feststellte, dass die Verletzung ernsthafter war, als man zunächst angenommen hatte: Annes Knöchel war gebrochen.
Als Marilla an jenem Abend in den Ostgiebel hinaufging, begrüßte Anne sie mit einem schwachen Lächeln.
»Tu ich dir nicht sehr Leid, Marilla?«
»Es war deine eigene Schuld«, antwortete Marilla, klappte die Fensterläden zu und zündete eine Lampe an.
»Das ist es ja, warum ich dir Leid tun sollte«, sagte Anne. »Gerade die Tatsache, dass es meine Schuld war, macht es mir so schwer. Wenn ich jemand anderem die Schuld geben könnte, wäre mir viel wohler. Aber was hättest denn du gemacht, wenn jemand dich herausgefordert hätte, auf dem Dachfirst zu
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