Anne auf Green Gables
getan?«
»Nur das, was im Rezept steht, Marilla«, beteuerte Anne. »Stimmt denn irgendetwas nicht damit?«
»Das kann man wohl sagen! Er schmeckt abscheulich! Essen Sie nicht weiter, Mrs Allan. Hier, Anne, probier doch selbst einmal. Was für ein Aroma hast du denn benutzt?«
»Vanille«, sagte Anne kleinlaut. Ihr Gesicht war purpurrot geworden. »Oh, Manila, es war bestimmt das Backpulver. Es kam mir schon gleich so verdächtig vor . ..«
»Unsinn! Lauf und hol mir die Flasche mit dem Vanillearoma, das du benutzt hast.«
ln Windeseile lief Anne in die Speisekammer und kam kurze Zeit später mit einer kleinen Flasche zurück, die noch zur Hälfte mit einer braunen Flüssigkeit gefüllt war. >Vanille< war auf dem gelben Etikett zu lesen.
Marilla entkorkte die Flasche und roch daran. »Ach, du liebe Güte, Anne! Du hast mein Rheumamittel in den Kuchen getan. Mir ist die Arzneiflasche letzte Woche kaputtgegangen und ich habe den Rest in eine leere alte Vanilleflasche gefüllt. Ich fürchte, ich trage die Hauptschuld an deinem misslungenen Kuchen, ich hätte dich warnen müssen. Aber warum hast du nicht an der Flasche gerochen?«
Anne war in Tränen aufgelöst. »Ich konnte doch nichts riechen, weil ich so erkältet war«, schluchzte sie und flüchtete hinauf in ihr Zimmer. Dort warf sie sich auf ihr Bett und weinte so heftig, als könnte nichts auf der Welt sie jemals trösten.
Bald darauf waren Schritte auf der Treppe zu hören, jemand betrat das Zimmer.
»Oh, Marilla«, schluchzte das Mädchen, ohne aufzuschauen, »ich habe mich unsterblich blamiert! Diese Schmach werde ich mein ganzes Leben lang nicht vergessen. Morgen wird es ganz Avonlea wissen, solche Sachen machen hier doch sofort die Runde. Diana wird mich außerdem fragen, wie meine Torte geworden ist, und dann muss ich ihr die Wahrheit sagen. Alle werden sie mich auslachen, ich werde überall nur noch das Mädchen sein, das Torte mit Rheumamittel bäckt. Gil... ich meine, die Jungen in der Schule werden sich totlachen. Oh, Marilla, wenn du noch einen Funken christlicher Nächstenliebe in dir hast, dann sag mir jetzt nicht, ich müsste nach alldem auch noch das Geschirr spülen. Ich spüle es, wenn Mr und Mrs Allan fort sind, aber ich kann Mrs Allan nie wieder in die Augen sehen. Vielleicht denkt sie auch noch, ich will sie vergiften. Mrs Lynde sagt, sie habe einmal von einem Waisenmädchen gehört, das versucht hat, seine Wohltäter zu vergiften. Aber Rheumamittel ist doch bestimmt nicht giftig, oder? Kannst du das Mrs Allan bitte erzählen, Marilla?«
»Wie wär’s, wenn du aufstehst und es ihr selbst sagst?«, fragte eine sanfte Stimme neben ihr.
Mit einem Satz sprang Anne auf. Vor ihr stand Mrs Allan und lächelte sie freundlich an. »Nicht weinen, mein Liebes«, sagte sie. »Es war doch nur ein Versehen. Das hätte jedem passieren können.«
»Oh, nein, Mrs Allan, so etwas passiert immer nur mir«, erwiderte Anne verzweifelt. »Dabei sollte die Torte für Sie ganz besonders lecker werden.«
»Das weiß ich doch, Kind. Und ich versichere dir, ich weiß deine Fürsorglichkeit und Gastfreundschaft genauso zu schätzen, als ob der Kuchen bestens gelungen wäre. Und jetzt hör auf zu weinen. Komm mit mir herunter und zeig mir deinen Blumengarten. Miss Cuthbert hat mir erzählt, dass du ein eigenes Beet hast. Das möchte ich gern sehen, ich interessiere mich nämlich sehr für Blumen.«
Dieser Vorschlag war genau das Richtige, um Anne von ihrem Kummer abzulenken und zu trösten. Über die »Rheumatorte« fiel kein weiteres Wort mehr, und als die Gäste fort waren, stellte Anne fest, dass sie - trotz des schrecklichen Zwischenfalls - den Nachmittag sehr genossen hatte. Sie seufzte tief.
»Marilla, ist es nicht tröstlich, dass morgen wieder ein neuer Tag anfängt - ganz frisch und frei von Fehlern?«
»Naja«, antwortete Marilla, »bis jetzt hast du noch keinen möglichen Fehler ausgelassen, Anne.«
»Ja, ich weiß«, gab Anne traurig zu. »Aber ist dir noch nicht aufgefallen, dass ich nie den gleichen Fehler zweimal mache?«
»Na, ich weiß nicht, ob das so ein großer Trost ist - solange du immer wieder neue machst.«
»Aber verstehst du denn nicht, Marilla? Es muss eine bestimmte Anzahl von Fehlern geben, die ein Mensch im Laufe seines Lebens einfach macht. Und wenn ich meine früh und gehäuft erledige, dann habe ich sie bestimmt auch bald alle hinter mir. Ist das nicht ein tröstlicher Gedanke?«
20 - Anne verteidigt ihre Ehre
Die
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