Anne Elliot oder die Kraft der Ueberredung
spazierenging, bemerkte eine von ihnen, nachdem sie von Stand, Standespersonen und Standesdünkel geredet hatten: »Zu
dir
kann ich es ja sagen, wie albern mir das Getue mancher Leute um ihren Rang vorkommt, jeder weiß ja, daß du solche Dinge nicht wichtig nimmst, aber ich wünschte wirklich, jemand könnte Mary einen Wink geben, daß sie sehr viel besser daran täte, nicht immer so darauf zu pochen; vor allem sollte sie nicht immer versuchen, Mama den Vortritt zu nehmen. Niemand bezweifelt, daß sie ein Recht dazu hat, aber es würde schicklicher wirken, wenn sie nicht jedesmal darauf bestehen würde. Nicht daß Mama sich auch nur das kleinste bißchen daraus machte, aber ich weiß, daß es vielen Leuten auffällt.«
Wie sollte Anne da überall Abhilfe schaffen? Sie konnte kaum mehr tun, als geduldig zuhören, abwiegeln und jeden beim andern entschuldigen; ihnen allen behutsam die Nachsicht nahelegen, derer es zwischen solch engen Nachbarn bedarf, und am deutlichsten bei den Hinweisen werden, die auf ihre Schwester gemünzt waren.
In jeder anderen Beziehung ließ sich ihr Besuch ausgezeichnet an. Der Tapetenwechsel, die Vielzahl an neuen Themen und die drei Meilen Abstand zu Kellynch taten ihrer Stimmung gut, Mary kränkelte weniger, nun da sie ständig Gesellschaft hatte, und auch der tägliche Umgang mit der anderen Familie, der ja keine wichtigen Geschäfte, keine innigere tiefere Verbundenheit oder Vertrautheit im Cottage störte, wirkte sich eher förderlich aus. Zwar wurde er stark ausgereizt, denn man kam jeden Morgen zusammen und verbrachte kaum einen Abend getrennt; doch Anne bezweifelte, daß sie sich gar so gut geschlagen hätten ohne Mr. und Mrs. Musgrove, die so würdig auf ihren angestammten Plätzen saßen, oder ohne das Plaudern, Lachen und Singen ihrer Töchter.
Sie selbst spielte wesentlich besser Klavier als beide Miss Musgroves, doch da sie keine Stimme, keine Fertigkeiten auf der Harfe und keine liebenden Eltern hatte, die daneben saßen und schwelgten, fand ihr Können wenig Beachtung, höchstens aus Höflichkeit oder damit die anderen pausieren konnten, das wußte sie nur zu gut. Wenn sie spielte, freute nur sie sich daran, aber das war nichts Neues für sie; bis auf eine kurze Zeit in ihrem Leben hatte sie es niemals seit ihrem fünfzehnten Jahr, niemals seit dem Tod ihrer Mutter, anders gekannt, als daß niemand ihr zuhörte, niemandes Sachverstand oder Geschmack ihr Bestätigung gab. Mit ihrer Musik fühlte sie sich seit jeher allein auf der Welt; und Mr. und Mrs. Musgroves liebevolle Voreingenommenheit für die Künste ihrer Töchter, bei vollständigem Desinteresse am Spiel aller anderen, bereitete ihr mehr Freude um der beiden als Gram um ihrer selbst willen.
Die Runde im Gutshaus erhielt nicht selten Zuwachs. Die Nachbarschaft war nicht groß, aber zu den Musgroves kamen alle; bei ihnen gab es mehr Tischgesellschaften und mehr Besucher, geladene wie zufällige, als bei irgendeiner anderen Familie. Sie waren so rundum beliebt wie niemand sonst.
Die Mädchen waren versessen aufs Tanzen, und die Abende konnten gut einmal mit einem improvisierten kleinen Ball enden. Nur einen Fußmarsch von Uppercross entfernt wohnten Verwandte, eine Familie in bescheideneren Verhältnissen, die für sämtliche ihrer Vergnügungen auf die Musgroves angewiesen waren; sie traten zu jedweder Zeit an, taten bei jedweder Sache mit, tanzten an jedwedem Platz; und Anne, die das Amt der Musikantin bei weitem jeder aktiveren Rolle vorzog, spielte Stunde um Stunde Reihentänze für sie, eine Gefälligkeit, die Mr. und Mrs. Musgrove mehr Begeisterung für ihre Musikalität entlockte als irgend etwas sonst und ihr von den beiden gern folgendes Kompliment eintrug: »Bravo, Miss Anne! Ganz hervorragend gespielt! Gott steh mir bei! Wie Ihre kleinen Finger über die Tasten fliegen!«
So vergingen die ersten drei Wochen. Der Michaelitag rückte heran, und nun war Anne mit dem Herzen wieder in Kellynch. Ein geliebtes Zuhause, das an Fremde fiel; all die lieben Zimmer und Möbel, Wäldchen und Landschaften, die ab jetzt von fremden Blicken, fremden Händen und Füßen vereinnahmt würden! Sie konnte an wenig anderes denken an diesem neunundzwanzigsten September, dessen Abend ihr folgenden mitfühlenden Ausruf von Mary eintrug, als diese zufällig das Datum schrieb: »Ach du Schreck! Sollten nicht heute die Crofts in Kellynch einziehen? Ein Glück, daß mir das nicht früher eingefallen ist. Wie schwermütig es mich
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