Anne Elliot oder die Kraft der Ueberredung

indem sie sagte, daß sie nur deshalb zu Fuß komme, damit die Harfe Platz habe, die im Wagen hertransportiert würde.
    »Und ich sage euch auch unseren Grund«, fügte sie hinzu, »und alles, was dahintersteckt. Ich bin vorgelaufen, um euch zu warnen, daß Papa und Mama heute abend in keiner guten Stimmung sind, besonders Mama; sie muß so viel an den armen Richard denken! Also waren wir uns einig, daß wir am besten die Harfe mitbringen, denn die scheint sie mehr aufzuheitern als das Klavier. Und ich sag euch auch gleich, warum ihre Stimmung so schlecht ist. Als die Crofts heute morgen bei uns waren (sie waren hinterher noch bei euch, nicht wahr?), haben sie erzählt, daß Mrs. Crofts Bruder, Captain Wentworth, gerade nach England zurückgekehrt ist oder den Dienst quittiert hat oder so etwas, und mehr oder weniger direkt zu ihnen kommt; und dummerweise fiel es Mama, nachdem sie gegangen waren, ein, daß Wentworth, oder zumindest ganz ähnlich, der Kapitän hieß, mit dem der arme Richard irgendwann unterwegs war, ich weiß nicht wann oder wo, aber jedenfalls eine gute Weile, bevor er gestorben ist, der Ärmste! Und als sie dann seine Briefe und Sachen durchgeschaut hat, war der Name der gleiche, und nun ist sie überzeugt, daß es derselbe Mann sein muß, und sie bekommt ihn und den armen Richard nicht aus ihrem Kopf! Also müssen wir alle so munter sein, wie wir nur können, damit sie aufhört, über solch traurigem Zeug zu brüten.«
    Die wahren Umstände, die sich hinter diesem ergreifenden Stück Familiengeschichte verbargen, waren die, daß den Musgroves das Unglück widerfahren war, einen hoffnungslos mißratenen Sohn zu haben, und das Glück, ihn noch vor seinem zwanzigsten Jahr wieder zu verlieren: einen Sohn, der zur See geschickt worden war, weil er sich an Land als dummund störrisch erwiesen hatte; einen Sohn, der von den Seinen zu keiner Zeit sehr gemocht worden war, aber allemal so, wie er es verdiente; einen Sohn, von dem sie kaum je mehr gehört und den sie fast gar nicht betrauert hatten, als die Nachricht von seinem Tod Uppercross schließlich erreichte; zwei Jahre war das nun her.
    Mochten die Schwestern auch sein Andenken nach Kräften hochhalten, indem sie ihn den »armen Richard« nannten: in Wahrheit war er nichts gewesen als ein hohlköpfiger, dumpfer, nutzloser Dick Musgrove, der sich durch nichts einen Anspruch auf mehr als diesen Namensstummel erworben hatte, ob lebend oder tot.
    Er war mehrere Jahre zur See gefahren und war, im Zuge jener Versetzungen, denen alle Seekadetten unterworfen sind, besonders aber diejenigen, die jeder Kapitän loswerden will, sechs Monate auf Captain Wentworths Fregatte gesegelt, der Laconia; und von der Laconia hatte er auf Betreiben seines Kapitäns die beiden einzigen Briefe geschickt, die seine Eltern während der ganzen Zeit seiner Abwesenheit erhalten hatten; oder besser, die beiden einzigen Briefe, die nicht vom Eigennutz diktiert waren; in allen anderen hatte er schlicht Geld gewollt.
    In beiden Briefen hatte er gut von seinem Kapitän gesprochen; aber so wenig waren sie es gewohnt, sich solche Dinge zu merken, so unachtsam und uninteressiert waren sie, was die Namen von Menschen oder Schiffen betraf, daß bei ihnen seinerzeit kaum etwas hängengeblieben war; und daß Mrs. Musgrove gerade heute von einer Erinnerung angewandelt worden war, die von dem Namen Wentworth eine Brücke zu ihrem Sohn schlug, schien einer jener außergewöhnlichen Durchbrüche, zu denen der menschliche Geist bisweilen fähig ist.
    Sie hatte sich ihre Briefschaften vorgenommen und all ihre Ahnungen bestätigt gefunden; und das Wiederlesen der Briefe nach so langer Zeit – ihr armer Sohn für immer dahin, dieVielzahl seiner Fehler vergeben und vergessen – hatte ihre Gefühle in einen ungeheuren Aufruhr versetzt und einen größeren Kummer in ihr aufwallen lassen, als sie ihn bei der Nachricht von seinem Tode verspürt hatte. Mr. Musgrove ging es, wenngleich in gelinderem Maß, ebenso; und als sie im Cottage ankamen, war es bitter vonnöten, daß man sie zuerst aufs neue ihr Herz ausschütten ließ, um ihnen sodann all die Erleichterung zu verschaffen, die fröhliche Geselligkeit zu geben vermag.
    Sie so viel von Captain Wentworth reden zu hören, zuzuhören, wie sie seinen Namen ein ums andere Mal wiederholten, wie sie über vergangene Jahre rätselten, um zuletzt zu dem Schluß zu gelangen, daß es sich
eventuell
, nein,
höchstwahrscheinlich
um eben jenen Captain Wentworth