Anne Elliot oder die Kraft der Ueberredung
vergrößerte sich die Runde erneut. Der jüngere Knabe, ein bemerkenswert stämmiges, keckes Kind von zwei Jahren, dem jemand von außen die Tür geöffnet hatte, kam hereinmarschiert und stapfte schnurstracks zum Sofa, um dort nach dem Rechten zu sehen, auf daß ihm keines der guten Dinge entgehe, die es doch sicher zu holen gab.
Eßbares fand er nicht, also blieb ihm nur, Unfug zu treiben; und da seine Tante ihm nicht erlaubte, den kranken Bruder zu quälen, warf er sich eben auf sie und hängte sich so an ihr fest, daß sie, immer noch kniend und ohne eine freie Hand, ihn nicht abschütteln konnte. Vergebens redete sie auf ihn ein – befahl, bettelte, drohte. Ganz kurz vermochte sie ihn sogar wegzustoßen, verschaffte ihm aber damit nur dienoch größere Freude, ihr prompt wieder auf den Rücken steigen zu können.
»Walter«, sagte sie, »sofort läßt du los. Du bist sehr unartig. Ich bin sehr böse auf dich.«
»Walter«, rief Charles Hayter, »warum gehorchst du nicht? Hörst du nicht, was deine Tante sagt? Komm zu mir, Walter, komm zu Onkel Charles.«
Aber Walter dachte gar nicht daran.
Im nächsten Moment jedoch fand sie sich von ihm befreit; jemand hob ihn von ihr herunter, jemand löste die kleinen starken Hände, die ihr den Kopf nach vorne bogen, von ihrem Hals und trug ihn resolut fort; und erst verspätet begriff sie, daß dieser Jemand Captain Wentworth war.
Die Erkenntnis machte sie ganz und gar sprachlos. Sie konnte ihm nicht einmal danken. Sie konnte nur über den kleinen Charles hingekauert dasitzen, heimgesucht von den widersprüchlichsten Gefühlen. Die Tatsache, daß er ihr zur Hilfe geeilt war – seine ganze Art dabei – das Schweigen, in dem er gehandelt hatte – all die kleinen Einzelheiten der Szene – dazu nun der Lärm, den er so angelegentlich mit dem Buben veranstaltete, doch sicher aus keinem anderen Grund, als um ihren Dank nicht hören zu müssen und um zu zeigen, daß er nichts weniger wünschte als eine Unterhaltung mit ihr – all das löste einen solchen Sturm verschiedenster, aber durchweg schmerzhafter Empfindungen in ihr aus, daß sie nicht aus noch ein wußte, bis endlich Mary und die Miss Musgroves zurückkehrten und sie den kleinen Patienten ihnen überantworten konnte, um selbst dem Zimmer zu entkommen. Zu bleiben war ihr unmöglich. Es hätte eine Gelegenheit sein können, die Liebes- und Eifersuchtsgefühle der vier auszuloten; sie waren jetzt alle beisammen; aber sie sah sich außerstande, darauf zu warten. Daß Charles Hayter nicht gut auf Captain Wentworth zu sprechen war, lag auf der Hand. Ihr war sehr stark so, als hätte er nach Captain Wentworths Eingreifen in ärgerlichem Ton gesagt: »Du hättestauf
mich
hören sollen, Walter; ich habe dir doch gesagt, du sollst deine Tante nicht plagen«, und sie verstand gut, wie sehr es ihn wurmte, daß Captain Wentworth übernommen hatte, was er selbst hätte tun sollen. Aber weder die Gefühle von Charles Hayter noch von irgend jemandem sonst konnten sie interessieren, ehe sie nicht ihre eigenen halbwegs unter Kontrolle gebracht hatte. Sie schämte sich, schämte sich zutiefst, daß sie so nervenschwach war, so gänzlich aus der Bahn geworfen durch solch eine Kleinigkeit; aber es ließ sich nicht ändern; und eine kräftige Dosis des Alleinseins und der Besinnung war vonnöten, um sie wiederherzustellen.
KAPITEL X
Andere Gelegenheiten, ihre Beobachtungen zu machen, konnten nicht ausbleiben. Schon bald hatte Anne genug Zeit in Gesellschaft der vier verbracht, um eine Meinung zu haben, auch wenn sie sich hütete, diese im Cottage zu offenbaren, wo sie weder den Hausherrn noch die Hausherrin zufriedengestellt hätte; denn zwar sah sie Louisa durchaus als die Favoritin an, aber soweit sie Erinnerung und Erfahrung zum Maßstab zu nehmen wagte, dachte sie doch bei sich, daß Captain Wentworth keines der Mädchen liebte. Die zwei ihn schon eher; doch echte Liebe war auch das nicht. Es war ein kleiner Bewunderungsrausch, der aber für manche in Liebe umschlagen konnte, vielleicht sogar mußte. Charles Hayter fühlte sich sichtlich zurückgesetzt, und doch hatte man zuweilen den Eindruck, Henrietta schwanke zwischen den beiden. Anne hätte sich die Macht gewünscht, ihnen allen klarzumachen, worauf sie da zusteuerten, ihnen die Gefahr aufzuzeigen, in die sie sich begaben. Sie erschienen ihr alle ganz arglos, und ihr größter Trost war es, glauben zu können, daß Captain Wentworth von dem Leid, das er verursachte,
Weitere Kostenlose Bücher