Anne in Avonlea
Jedenfalls, Mr Gray überließ Jordan diese Farm und der baute hier hinten ein kleines Haus, in dem Jordan und Hester viele Jahre lang lebten. Sie ging nur selten außer Haus, und außer Mrs Lynde und meiner Mutter kam sie kaum einmal jemand besuchen. Jordan legte für sie diesen Garten an. Sie werkelte begeistert darin herum und verbrachte die meiste Zeit hier. Sie war keine gute Hausfrau, aber sie hatte ein Händchen für Blumen. Dann wurde sie krank. Meine Mutter meint, sie wäre schon krank gewesen, bevor sie hierher kam. Sie hat nie wirklich das Bett hüten müssen, aber sie wurde immer schwächer. Jordan hatte niemanden, der sie hätte pflegen können. Er hat sich ganz allein um sie gekümmert. Meine Mutter sagt, er war so sanft und gütig wie eine Frau. Tag für Tag hat er sie in ihr Tuch gewickelt und sie nach draußen in den Garten gebracht. Sie hätte ganz glücklich auf einer Bank gelegen. Man sagt, Jordan hätte sich jeden Abend und jeden Morgen neben sie hinknien und mit ihr zusammen darum beten müssen, dass sie, wenn ihre Zeit kam, draußen im Garten sterben möge. Ihr Gebet wurde erhört. Eines Tages trugjordan sie nach draußen auf die Bank, pflückte alle blühenden Rosen ab und bedeckte Hester über und über mit ihnen. Sie lächelte ihn nur an . . . schloss die Augen . . . Und das«, sagte Diana leise, »war das Ende.«
»Was für eine hübsche Geschichte«, seufzte Anne und wischte sich die Tränen ab.
»Was wurde aus Jordan?«, fragte Priscilla.
»Nach Hesters Tod verkaufte er die Farm und kehrte nach Boston zurück. Mr Jabez Sloane kaufte die Farm und baute das kleine Haus weiter oben an der Straße wieder auf. Jordan starb ungefähr zehn Jahre später, wurde nach Hause überführt und neben Hester begraben.«
»Ich verstehe nicht, warum sie so abgeschieden leben wollte«, sagte Jane.
»Oh, das kann ich gut verstehen«, sagte Anne nachdenklich. »Obwohl ich selbst nicht so leben wollte, weil ich, sosehr ich die Wälder und Felder liebe, auch die Menschen liebe. Aber bei Hester kann ich es verstehen. Sie hatte den Lärm der Großstadt und das Gewimmel von Menschen satt, von denen sich nicht einer um sie scherte. Sie wollte dem entfliehen an einen friedlichen Ort, wo sie ihre Ruhe hatte. Hier fand sie, was sie suchte, was wohl nicht vielen Menschen im Leben vergönnt ist. Sie verlebte vier wundervolle Jahre, ehe sie starb —vier Jahre vollkommenen Glücks. Darum wurde sie wohl auch mehr beneidet als bemitleidet. Und dann seine Augen schließen und von Rosen bedeckt entschlafen und der, den man über alles geliebt hat, lächelt einem zu . . . ich glaube, es war schön!«
»Sie hat die Kirschbäume da drüben angepflanzt«, sagte Diana. »Sie hat meiner Mutter erzählt, sie hätte nie auch nur eine einzige Kirsche gegessen, aber sie wolle in dem Wissen sterben, dass etwas, das sie gepflanzt hatte, weiterlebte und dazu beitrug, die Welt zu verschönern.«
»Ich bin ja so froh, dass wir diesen Weg eingeschlagen haben«, sagte Anne mit glänzenden Augen. »Heute ist mein Wunsch-Geburtstag, wie ihr wisst, und dieser Garten und seine Geschichte ist mein Geschenk. Hat deine Mutter dir je erzählt, wie Hester Gray ausgesehen hat, Diana?«
»Nein, nur dass sie hübsch war.«
»Da bin ich aber froh, weil ich mir vorstellen kann, wie sie ausgesehen hat, ohne dass mir Tatsachen den Blick verstellen. Bestimmt war sie sehr schlank und schmal, hatte leicht gewelltes dunkles Haar und große, hübsche, schüchterne, braune Augen und ein ernstes blasses Gesicht.«
Die Mädchen ließen die Körbe in Hesters Garten stehen, streiften den ganzen Nachmittag durch den Wald, kamen an Feldern entlang und entdeckten viele hübsche abgeschiedene Fleckchen und Pfade. Als sie Hunger bekamen, hielten sie an der schönsten Stelle überhaupt ihr Picknick - am steilen Ufer eines gurgelnden Baches, wo weiße Birken aus langem fiedrigem Gras emporragten. Die Mädchen ließen sich nieder und machten sich über Annes Köstlichkeiten her. Auch die »unpoetischen« Sandwiches wurden angesichts des herzhaften Appetits der vier, angeregt von der vielen Bewegung in der frischen Luft, dankbar angenommen. Anne hatte Gläser und Limonade für ihre Gäste mitgenommen, aber sie selbst trank kühles Wasser aus dem Bach aus einer aus Birkenrinde geformten Tasse. Die Tasse leckte und das Wasser schmeckte nach Erde, wie Wasser aus einem Bach im Frühling eben schmeckt.
»Schaut mal, seht ihr das Gedicht?«, sagte sie plötzlich und
Weitere Kostenlose Bücher