Anne in Avonlea
sich holen wird. Vielleicht liegt das College ja hinter der Biegung in der Straße, aber bis jetzt bin ich nicht zur Biegung gelangt und denke nicht weiter darüber nach, damit ich nicht unzufrieden werde.«
»Ich fände es gut, wenn du aufs College gingest, Anne. Aber wenn nichts daraus wird, sei nicht traurig. Irgendwie leben wir unser Leben, wo auch immer. Das College ermöglicht uns nur ein bequemeres Leben. Je nachdem, was wir daraus machen, ist es ein erfülltes oder ein unerfülltes Leben. Man kann hier, überall, ein reiches und erfülltes Leben leben, wenn man nur lernt, sein Herz voll und ganz dem Reichtum und der Fülle zu öffnen.«
»Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Anne nachdenklich. »Da ist so viel, wofür ich dankbar bin, so viel - meine Arbeit, Paul Irving, die lieben Zwillinge und alle meine Freunde. Wissen Sie, ich bin so dankbar für Freundschaft. Sie verschönt das Leben.«
»Wahre Freundschaft ist in der Tat sehr hilfreich«, sagte Mrs Allan. »Man sollte sie in Ehren halten und niemals durch Unaufrichtigkeit oder Unehrlichkeit trüben. Ich fürchte, Freundschaft wird oft mit einer Art Vertrautheit verwechselt, die nichts mit wirklicher Freundschaft zu tun hat.«
»Ja, wie bei Gertie Pye und Julia Bell. Sie tun sehr vertraut und unternehmen alles zusammen. Aber Gertie zieht hinter Julias Rücken dauernd über sie her und alle denken, sie wäre eifersüchtig auf sie, weil sie sich immer so freut, wenn jemand an Julia etwas auszusetzen hat. Eine Schande, so was als Freundschaft zu bezeichnen. Man sollte in seinen Freunden nur das Beste sehen und ihnen sein Bestes geben, meinen Sie nicht? Dann ist Freundschaft das Schönste auf der Welt.«
»Freundschaft ist etwas Schönes«, lächelte Mrs Allan, »aber eines Tages . ..«
Dann brach sie abrupt ab. In dem zarten hellen Gesicht an ihrer Seite mit den aufrichtigen Augen und ausdrucksvollen Zügen lag noch viel mehr von einem Kind als von einer Frau. Anne war voller Träume von Freundschaft und hehren idealen. Mrs Allan wollte ihr nicht ihre jugendliche Unverdorbenheit nehmen. Also brach sie den Satz ab, um ihn erst in einigen Jahren zu vervollständigen.
16 - Hoffnung und was daraus werden kann
»Anne«, sagte Davy anklagend und kletterte auf das glänzende Ledersofa in der Küche von Green Gables, auf dem Anne saß und einen Brief las. »Anne, ich habe schrecklichen Hunger. Du machst dir keine Vorstellung.«
»Ich mache dir gleich ein Butterbrot«, sagte Anne abwesend. Der Brief enthielt offensichtlich einige aufregende Neuigkeiten, denn ihren Wangen waren so rot wie die Strauchrosen draußen und ihre Augen strahlten, wie nur Annes Augen strahlen konnten.
»Aber ich habe keinen Butterbrot-Hunger«, sagte Davy angewidert. »Ich hab Pflaumenkuchen-Hunger.«
»Oh«, lachte Anne, legte den Brief beiseite, nahm Davy in den Arm und drückte ihn. »Dann wirst du dich noch eine Weile gedulden müssen, Davy-Junge. Du kennst Manilas Grundsatz, dass du zwischen den Mahlzeiten höchstens ein Butterbrot essen darfst.«
»Na gut, dann gibt mir eins... bitte.«
Davy war endlich beigebracht worden, »bitte« zu sagen, aber meist setzte er es wie einen nachträglichen Einfall ans Ende. Er sah zustimmend auf die großzügige Scheibe, die Anne ihm bald darauf brachte. »Du schmierst immer so schön dick Butter drauf, Anne. Marilla streicht immer nur ziemlich dünn Butter drauf. Mit viel Butter flutscht es viel besser hinunter.«
Das Butterbrot »flutschte« bestens hinunter, so schnell wie es verschwunden war. Davy rutschte kopfvoran vom Sofa, schlug zwei Purzelbäume auf dem Teppich, setzte sich dann auf und verkündete bestimmt: »Anne, das mit dem Himmel hab ich mir überlegt. Ich will nicht dahin.«
»Warum nicht?«, fragte Anne ernst.
»Weil der Himmel auf Simon Fletchers Speicher ist und Simon Fletcher kann ich nicht leiden.«
»Der Himmel auf . . . Simon Fletchers Speicher?«, sagte Anne, schnappte nach Luft und konnte vor Verwunderung nicht einmal lachen. »Davy Keith, wie kommst du auf die Idee?«
»Milty Boulter hat das gesagt und zwar am letzten Sonntag nach der Sonntagsschule. Die Unterrichtsstunde drehte sich um Elia und Elisa. Ich bin aufgestanden und hab Miss Rogerson gefragt, wo der Himmel ist. Sie war sowieso schon ärgerlich, weil, als sie uns gefragt hatte, was Elia Elisa hinterließ, nachdem er in den Himmel gekommen war, sagte Milty Boulter: >Sein altes Zeugs.< Wir anderen haben gar nicht nachgedacht und haben
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