Anne in Avonlea
wackligen alten Bretterzaun durch einen ordentlichen Drahtzaun ersetzen, das Grün mähen und die umgekippten Grabsteine aufrichten lassen.
Anne legte die mitgebrachten Blumen auf Matthews Grab und ging dann hinüber zu der kleinen von Pappeln beschatteten Ecke, wo Hester Gray begraben lag. Seit jenem Frühjahr-Picknick hatte sie jedes Mal, wenn sie Matthews Grab besuchte, auch Blumen auf Hesters Grab gelegt. Am Abend zuvor war sie zu dem kleinen abgeschiedenen Garten im Wald gewandert und hatte welche von Hesters eigenen weißen Rosen gepflückt.
»Ich dachte, sie gefallen Ihnen besser als irgendwelche anderen, meine Liebe«, sagte sie leise.
Anne saß noch immer dort, als ein Schatten auf das Gras fiel. Sie sah auf und erblickte Mrs Allan. Zusammen gingen sie nach Hause.
Mrs Allans Gesicht war nicht mehr das der jungen Braut, die der Pfarrer vor fünf Jahren mit nach Avonlea gebracht hatte. Es hatte an rosiger Frische und Jugendlichkeit verloren, um Augen und Mund zeigten sich feine Linien. Ein kleines Grab auf eben diesem Friedhof war schuld daran, ein paar neue Fältchen waren hinzugekommen, als ihr Sohn krank geworden war. Inzwischen allerdings hatte er alles heil überstanden. Aber Mrs Allans Grübchen zeigten sich so unvermutet und waren so niedlich wie eh und je, wie ihre Augen hell und strahlend und aufrichtig waren.
»Du freust dich sicher auf die Ferien, Anne?«, sagte sie, als sie den Friedhof verließen.
Anne nickte.
»Ja, das Wort zergeht mir auf der Zunge wie ein Leckerbissen. Es wird bestimmt ein herrlicher Sommer. Denn im Juli kommt Mrs Morgan auf die Insel und Priscilla und sie wollen uns besuchen. Beim bloßen Gedanken daran überläuft mich wie früher eine Gänsehaut.«
»Ich hoffe, du verlebst eine schöne Zeit, Anne. Du hast im vergangenen Jahr hart gearbeitet und einiges erreicht.«
»Ach, ich weiß nicht. Ich habe so viele Ziele nicht erreicht. Ich habe längst nicht das geschafft, was ich mir vorgenommen habe, als ich letzten Herbst in der Schule anfing. Ich bin meinen Idealen nicht gerecht geworden.«
»Das gelingt keinem«, sagte Mrs Allan mit einem Seufzer. »Du weißt auch, Anne, was Lowell dazu sagt: >Nicht das Scheitern, sondern zu niedrig gesteckte Ziele sind ein Vergehen.< Wir brauchen Ideale und müssen sie zu erreichen versuchen, auch wenn uns das nie ganz gelingt. Ohne Ideale wäre das Leben traurig. Ideale machen es großartig und grandios. Halte an deinen Idealen fest, Anne.«
»Ich werde es versuchen. Aber ich habe fast alle meine Theorien sausen lassen«, sagte Anne und lachte ein wenig. »Ich hatte die schönsten Theorien, die man sich nur vorstellen kann, als ich in der Schule anfing, aber eine nach der anderen erwies sich, wenn es darauf ankam, als ein Fehlschlag.«
»Auch die von der Prügelstrafe«, neckte Mrs Allan sie.
Aber Anne wurde rot.
»Ich werde mir nie verzeihen, dass ich Anthony geschlagen habe.«
»Unsinn, Liebes, er hatte es verdient. Es hat ihm gut getan. Seither hast du keinen Ärger mehr mit ihm gehabt und er findet dich einmalig. Mit Freundlichkeit hast du seine Zuneigung gewonnen und ihm seine dumme Idee >ein Mädchen taugt nichts< ein für alle Mal ausgetrieben.«
»Vielleicht hatte er es verdient, aber das ist nicht der Punkt. Hätte ich ruhig und überlegt entschieden, ihm eine Tracht Prügel zu geben, weil ich es für eine angemessene Strafe hielt, dann würde ich jetzt anders darüber denken. Aber die Wahrheit ist, Mrs Allan, dass ich in Wut geraten bin und ihn deshalb verprügelt habe. Ich habe nicht darüber nachgedacht, ob es richtig oder falsch ist... auch wenn er es nicht verdient gehabt hätte, hätte ich ihn verprügelt. Das ist das Niederschmetternde.«
»Wir machen alle Fehler, meine Liebe, vergiss es also. Wir sollten unsere Fehler bedauern und aus ihnen lernen, aber sie nicht weiter mit uns herumschleppen. Da fahrt Gilbert Blythe mit dem Fahrrad ... wohl auch auf dem Nachhauseweg in die Ferien. Wie kommt ihr mit dem Lernen voran?«
»Ganz gut. Heute Abend wollen wir den Vergil abschließen. Es sind nur noch zwanzig Zeilen. Dann fangen wir erst im September wieder an zu lernen.«
»Meinst du, du gehst irgendwann noch einmal aufs College?«
»Ich weiß nicht.« Anne blickte verträumt in die Ferne zum opalfarbenen Horizont. »Mit Marillas Augen wird es nicht besser; wir können schon froh sein, dass es nicht noch schlechter wird. Und dann sind da die Zwillinge - irgendwie glaube ich nicht so recht, dass ihr Onkel sie zu
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