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Anne in Avonlea

Anne in Avonlea

Titel: Anne in Avonlea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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Tasche. Das Schuljahr war um, und da alle mit ihr zufrieden waren, war sie für das nächste wieder eingestellt worden - nur Mr Harmon Andrews hatte gesagt, sie solle öfter den Stock benutzen. Jetzt winkten ihr zwei herrliche Monate wohlverdienter Ferien. Anne war im Einklang mit sich und der Welt, als sie mit ihrem Korb voll Blumen in der Hand den Hügel hinunterging. Seit die ersten Frühlingsblumen blühten, hatte Anne nicht ein einziges Mal ihren allwöchentlichen Gang zu Matthews Grab versäumt. Alle in Avonlea, außer Marilla, hatten bereits den stillen, schüchternen, unbedeutenden Matthew Cuthbert vergessen. Aber in Anne war die Erinnerung an ihn lebendig und würde es immer bleiben. Sie konnte diesen guten Mann nicht vergessen, der ihr all die Liebe und Zuneigung gegeben hatte, nach der sie sich in ihrer Kindheit so gesehnt hatte.
    Am Fuße des Hügels saß im Schatten der Fichten ein Junge auf dem Zaun - ein Junge mit großen, verträumten Augen und einem schönen ausdrucksstarken Gesicht. Er schwang sich hinunter und schloss sich lächelnd Anne an. Aber er hatte geweint.
    »Ich habe auf Sie gewartet, weil ich mir dachte, dass Sie auf den Friedhof gehen«, sagte er und schob seine Hände in ihre. »Ich gehe auch dahin. Ich will diesen Strauß Geranien von Großmutter auf Großvater Irvings Grab legen. Und schauen Sie, diesen Strauß weiße Rosen lege ich zum Gedenken an meine Mutter neben Großvaters Grab, weil ich ihr Grab nicht besuchen kann. Aber meinen Sie nicht auch, sie weiß es trotzdem?«
    »Ja, ganz bestimmt, Paul.«
    »Verstehen Sie, genau heute vor drei Jahren ist meine Mutter gestorben. Das ist eine lange, lange Zeit, aber es tut noch immer genauso weh ... und ich vermisse sie noch genauso. Manchmal kommt es mir vor, als könnte ich es nicht aushalten, so weh tut es.«
    Pauls Stimme und seine Lippen zitterten. Er sah auf die Rosen und hoffte, dass seine Lehrerin die Tränen in seinen Augen nicht bemerkte.
    »Und doch«, sagte Anne sehr sanft, »würdest du nicht wollen, dass es aufhört weh zu tun. Du würdest deine Mutter nicht vergessen wollen, selbst wenn du es könntest.«
    »Nein, bestimmt nicht, genauso empfinde ich es auch. Sie verstehen immer alles so gut, Miss. Bei niemand sonst ist das so, nicht einmal bei meiner Großmutter, obwohl sie sehr gut zu mir ist. Höchstens noch bei meinem Vater, aber trotzdem habe ich nie viel mit ihm über meine Mutter geredet, weil ihm dann so elend zumute wurde. Wenn er sich die Hand vors Gesicht legte, wusste ich schon immer, dass ich besser aufhöre damit. Armer Vater, er muss sich schrecklich allein fühlen ohne mich. Aber verstehen Sie, er hat jetzt nur die Haushälterin und er meint, Haushälterinnen eignen sich nicht dafür, kleinejungen aufzuziehen, vor allem, wo er aus geschäftlichen Gründen sooft von zu Hause weg ist. Großmütter eignen sich besser, sie kommen gleich nach den Müttern. Eines Tages, wenn ich groß bin, gehe ich zurück zu meinem Vater und wir werden uns nie wieder voneinander trennen.«
    Paul hatte ihr so viel von seiner Mutter und seinem Vater erzählt, dass es Anne vorkam, als würde sie sie kennen. Seine Mutter musste ihm im Temperament und im Charakter sehr ähnlich gewesen sein. Und Stephen Irving stellte sie sich ziemlich zurückhaltend, tiefgründig und empfindsam vor, was er vor allen ängstlich verbarg.
    »Mit meinem Vater wird man nicht so leicht warm«, hatte Paul einmal gesagt. »Ich habe ihn erst richtig kennen gelernt, nachdem meine Mutter gestorben war. Aber wenn man ihn erst einmal richtig kennt, ist er großartig. Ihn mag ich am liebsten von allen auf der Welt, dann Großmutter Irving und dann Sie. Ich würde Sie gleich nach meinem Vater am liebsten mögen, wenn es nicht meine Pflicht wäre, erst Großmutter zu mögen, weil sie so viel für mich tut. Sie verstehen schon. Allerdings wünschte ich, sie würde mir die Kerze dalassen, bis ich eingeschlafen bin. Sie nimmt sie immer gleich, wenn sie mich zugedeckt hat, mit hinaus und sagt, ich solle nicht so ein Angsthase sein. Ich habe keine Angst, aber trotzdem hätte ich gern eine Kerze. Meine Mutter hat sich immer zur mir ans Bett gesetzt und meine Hand gehalten, bis ich eingeschlafen war. Bestimmt hat sie mich verwöhnt. Mütter tun das manchmal, wissen Sie.«
    Nein, das wusste Anne nicht, obwohl sie es sich vorstellen konnte. Sie dachte traurig an ihre »Mutter«, die Mutter, die sich Anne als eine »vollkommene Schönheit« vorgestellt hatte und die vor so

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