Anne in Avonlea
Suppe sein sollte - aber nicht mehr lange.
»Ich glaube nicht, dass sie überhaupt noch kommen«, sagte Marilla ärgerlich.
Anne und Diana sahen einander trostsuchend an.
Um halb zwei tauchte Marilla wieder aus dem Wohnzimmer auf. »Mädchen, wir müssen jetzt essen. Alle haben Hunger, es hat keinen Zweck, noch länger zu warten. Priscilla und Mrs Morgan kommen nicht, das ist sicher. Warten nützt da auch nichts.«
Anne und Diana machten sich ohne jede Begeisterung daran, das Essen aufzutragen.
»Ich bringe keinen Bissen hinunter«, sagte Diana traurig.
»Ich auch nicht. Hoffentlich schmeckt es wenigstens Miss Stacy und den Allans«, sagte Anne lustlos.
Als Diana die Erbsen in die Schüssel gab, kostete sie sie und verzog das Gesicht.
»Anne, hast du Zucker an die Erbsen getan?«
»Ja«, sagte Anne und zerstampfte die Kartoffeln mit einer Miene wie jemand, der nur seine Pflicht erledigt. »Ich habe einen Löffel voll Zucker hineingetan. Wir geben immer Zucker hinzu. Magst du es nicht?«
»Ich habe auch einen Löffel voll hineingetan, als ich sie aufs Feuer setzte«, sagte Diana.
Anne ließ den Stampfer sinken und kostete ebenfalls. Dann zog sie eine Grimasse.
»Wie scheußlich! Nicht im Traum wäre ich darauf gekommen, dass du Zucker zugeben würdest, weil ich weiß, dass deine Mutter nie Zucker zugibt. Wie durch ein Wunder habe ich zufällig daran gedacht - ich vergesse es mit schöner Regelmäßigkeit -, also habe ich einen Löffel voll hineingetan.«
»Zu viele Köche . . .«, sagte Marilla, die der Unterhaltung ziemlich schuldbewusst gelauscht hatte. »Ich hatte mir nicht träumen lassen, dass du an den Zucker denkst, Anne. Du hast noch nie Zucker hineingetan - also habe ich einen Löffel voll hineingegeben.«
Die Gäste im Wohnzimmer vernahmen aus der Küche ein ums andere Mal schallendes Gelächter, aber sie hatten keine Ahnung, was der Grund dafür war. Jedenfalls standen an dem Tag keine Erbsen auf dem Tisch.
»Na ja«, seufzte Anne und riss sich wieder zusammen, »wir haben ja den Salat und bei den Bohnen wird wohl auch nichts schief gelaufen sein. Tragen wir die Sachen auf und bringen es hinter uns.«
Man kann nicht behaupten, dass das Essen sehr gesellig verlief. Die Allans und Miss Stacy bemühten sich redlich die Situation zu retten. Marilla ließ sich nicht aus ihrer gewohnten Ruhe bringen. Aber Anne und Diana, hin und her gerissen zwischen Enttäuschung und Erschöpfung von den Aufregungen des Vormittags, konnten weder reden noch essen. Anne mühte sich und beteiligte sich den Gästen zuliebe hin und wieder am Gespräch. Doch im Augenblick war jeder Funke in ihr erloschen. Trotz aller Liebe zu den Allans und Miss Stacy musste sie unaufhörlich denken, wie schön es wäre, wenn sie alle nach Hause gingen und sie ihre Erschöpfung und Enttäuschung in den Kissen im Ostgiebel vergessen konnte.
Es gibt eine alte Redensart, die manchmal nur zu wahr ist: »Ein Unglück kommt selten allein.« Das Maß der Widerwärtigkeiten an diesem Tag war noch nicht voll. Gerade als Mr Allan das Tischgebet beendete, ertönte auf der Treppe ein merkwürdiges, unheilverkündendes Geräusch, so als würde ein harter schwerer Gegenstand von Stufe zu Stufe poltern. Mit einem gewaltigen Krach landete es auf dem Boden. Alle rannten hinaus auf den Flur. Anne schrie entsetzt auf.
Am Fuße der Treppe lag zwischen Scherben, die einmal Miss Barrys Servierplatte gewesen waren, eine große rosa Muschel. Oben an der Treppe kniete der erschrockene Davy und starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Verwüstung.
»Davy«, sagte Marilla drohend, »hast du die Muschel mit Absicht hinuntergeworfen?«
»Nein, ehrlich nicht«, wimmerte Davy. »Ich hab nur ganz still hier gekniet, um euch durch das Geländer zu beobachten. Da bin ich mit dem Fuß gegen dieses alte Ding gestoßen und es ist heruntergefallen. Ich hab einen Bärenhunger. Und lieber bekäme ich eine Tracht Prügel und damit basta, statt immer nach oben geschickt zu werden, wo ich alles verpasse!«
»Schimpf nicht mit Davy«, sagte Anne und sammelte mit zitternden Fingern die Scherben auf. »Es war mein Fehler. Ich habe die Platte dort abgestellt und ganz vergessen. Das ist die verdiente Strafe für meine Nachlässigkeit. Aber, oje, was wird Miss Barry sagen?«
»Sie hat sie sich gekauft, also ist es nicht so schlimm, als wenn es ein Erbstück wäre«, versuchte Diana sie zu trösten.
Bald darauf gingen die Gäste in dem Gefühl, dass das am taktvollsten war.
Weitere Kostenlose Bücher