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Anne in Avonlea

Anne in Avonlea

Titel: Anne in Avonlea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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etwas gegen das Heiraten zu haben.«
    »Na ja, bei diesen alten Junggesellen weiß man nie. Aber wenn es stimmt, gebe ich Rachel Recht, dass das verdächtig ist, denn vorher hat man ihn noch nie in einem weißen Hemd gesehen.«
    »Das hat er bestimmt nur angezogen, weil er mit Harmon Andrews ein Geschäft abschließen wollte«, sagte Anne. »Er hat einmal gesagt, das wäre der einzige Anlass für einen Mann, besonderen Wert auf sein Äußeres zu legen, weil, wenn man wohlhabend aussieht, würde die Gegenpartei einen nicht so schnell übers Ohr zu hauen versuchen. Mr Harrison tut mir richtig Leid. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er mit seinem Leben zufrieden ist. Er muss sich sehr einsam fühlen, wo er niemanden hat, um den er sich kümmern muss, außer dem Papagei, meinst du nicht auch? Aber Mr Harrison mag nicht bemitleidet werden. Das mag niemand, könnte ich mir vorstellen.«
    »Da kommt Gilbert den Weg hoch«, sagte Manila. »Falls ihr vorhabt, eine Bootsfahrt zu machen, denk daran, Mantel und Gummistiefel anzuziehen. Es ist sehr frisch heute Abend.«

18 - Das Erlebnis in der Tory-Straße
    »Anne«, sagte Davy, richtete sich im Bett auf und stützte das Kinn in die Hände. »Anne, wo ist der Schlaf? Jeden Abend legen die Leute sich schlafen. Natürlich weiß ich, dass der Schlaf da ist, wo sich meine Träume abspielen. Aber ich will wissen, wo das ist und wie man dahin und wieder zurückkommt, ohne dass man etwas davon merkt. Und die Nacht - wohin verschwindet die?«
    Anne kniete am Fenster im Westgiebel und betrachtete den Sonnenuntergang, der wie ein großer Krokus aussah, mit einem Blütenkranz und in der Mitte ein feuriges Gelb. Bei Davys Frage wandte sie den Kopf und sagte verträumt:
     
    »Über den Bergen des Mondes,
    Im Tale des Schattens.«
     
    Paul Irving hätte den Sinn verstanden oder, wenn nicht, sich selbst einen Reim darauf gemacht. Aber der praktisch denkende Davy, der, wie Anne oft verzweifelt feststellte, nicht ein Fünkchen Phantasie besaß, war nur verwirrt und verärgert.
    »Anne, eben redest du Unsinn.«
    »Natürlich, mein Lieber. Weißt du nicht, dass nur die Dummen dauernd etwas sagen, das einen Sinn ergibt?«
    »Also ich finde, du könntest auf eine vernünftige Frage auch eine vernünftige Antwort geben«, sagte Davy beleidigt.
    »Ach, um das zu verstehen, bist du noch zu klein«, sagte Anne. Aber sie schämte sich, dass sie das gesagt hatte. Denn hatte sie nicht, in bitterer Erinnerung an ähnliche schroffe Abfertigungen in ihrer eigenen Kindheit, feierlich geschworen, nie wieder zu einem Kind zu sagen, es sei noch zu klein, um es zu verstehen? Und doch sagte sie es - so weit klaffen Theorie und Praxis manchmal auseinander. »Naja, ich tue mein Bestes, um größer zu werden«, sagte Davy, »aber das kann man nicht beschleunigen. Wäre Marilla nicht so geizig mit ihrem Kompott, würde ich bestimmt schneller wachsen.«
    »Marilla ist nicht geizig, Davy«, sagte Anne streng. »Du bist undankbar, so was zu sagen.«
    »Es gibt ein anderes Wort, das dasselbe bedeutet und viel besser klingt, aber es fällt mir jetzt nicht ein«, sagte Davy und runzelte angestrengt nachdenkend die Stirn. »Marilla hat es neulich selbst von sich gesagt.«
    »Wenn du haushälterisch meinst, das ist etwas ganz anderes als geizig. Haushalten ist eine gute Eigenschaft. Wäre Marilla geizig, hätte sie Dora und dich nicht aufgenommen, als eure Mutter starb. Hättest du bei Mrs Wiggins leben wollen?«
    »Jetzt bitte ich dich aber, nein!«, sagte Davy mit Nachdruck. »Und zu Onkel Richard will ich auch nicht. Ich bleibe viel lieber hier, auch wenn Marilla dieses langschwänzige Wort ist, wenn es sich um Kompott dreht. Weil du hier bist, Anne. Sag mal, Anne, willst du mir nicht vor dem Einschlafen eine Geschichte erzählen? Aber kein Märchen. Für Mädchen mögen sie sich ja eignen, aber ich mag lieber aufregende Geschichten - wo viel mit Morden und Schießen drin vorkommt, ein brennendes Haus und mehr so interessante Sachen.«
    Zu Annes Glück rief ihr in dem Augenblick Marilla von ihrem Zimmer aus zu: »Anne, Diana gibt ganz schnell hintereinander Zeichen. Du siehst am besten nach, was sie will.«
    Anne lief in den Ostgiebel und sah durch das Dämmerlicht, wie Diana von ihrem Fenster aus jeweils fünfmal hintereinander Lichtzeichen gab. Nach ihrem alten Code bedeutete das: »Komm sofort her. Ich muss dir etwas Wichtiges sagen.« Anne schlang sich das weiße Tuch um den Kopf und rannte durch den Geisterwald

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