Anne in Avonlea
Lavendar«, verkündete Paul, als sie durch den Buchenwald gingen. »Ich mag, wie sie mich angeschaut hat, und ihr Haus und Charlotta die Vierte. Ich wünschte Großmutter Irving hätte eine Charlotta die Vierte anstelle von Maryjoe. Charlotta die Vierte würde bestimmt nicht denken, ich wäre nicht ganz richtig im Kopf, wenn ich ihr meine Geschichte erzählte. War das nicht ein sagenhaftes Essen? Großmutter sagt, ein Junge muss essen, was auf den Tisch kommt. Aber wenn ich richtig hungrig bin, spielt es schon eine Rolle, was es gibt. Miss Lavendar würde bestimmt nicht von einem verlangen, dass man zum Frühstück Porridge isst, wenn man Porridge nicht mag. Sie würde einem Sachen machen, die einem schmecken. Aber«, Paul war da sehr aufrichtig, »das bekäme einem vielleicht gar nicht. Doch zur Abwechslung tut es gut. Sie verstehen schon.«
24 - Ein Prophet in seinem eigenen Land
An einem Tag im Mai waren die Bewohner von Avonlea einigermaßen bestürzt über gewisse »Avonlea-Mädchen«, unterzeichnet mit »Ein Beobachter«, in den Täglichen Nachrichten von Charlottetown. Man hielt Charlie Sloane für den Verfasser, zum einen, weil besagter Charlie in der Vergangenheit ähnliche Ergüsse von sich gegeben hatte, zum anderen, weil eine der Meldungen eine spöttische Bemerkung über Gilbert Blythe enthielt. Die Jugendlichen von Avonlea hielten Gilbert Blythe und Charlie Sloane hinsichtlich der Gunst eines gewissen jungen Mädchens mit graugrünen Augen und viel Phantasie hartnäckig für Rivalen.
Die Gerüchte trafen wie üblich nicht zu. Gilbert Blythe hatte zusammen mit Anne die Meldungen verfasst und die Meldung über sich sogar selbst hinzugefügt. Nur zwei der Meldungen sind hier von Belang.
»Es geht das Gerücht, dass hier bei uns im Ort eine Hochzeit stattfinden wird, noch ehe die Gänseblümchen blühen. Ein neu zugezogener, hoch angesehener Bürger wird eine unserer meistgeschätzten Damen zum Hochzeitsaltar fuhren.«
»Onkel Abe, unser allseits bekannter Wetterprophet, hat für den 23.
Mai, Punkt 7 Uhr abends, einen schweren Gewittersturm vorhergesagt. Fast die gesamte Provinz wird von dem Sturm betroffen sein. Reisende sollten sich an dem Abend möglichst mit Schirm und Regenmantel ausrüsten.«
»Onkel Abe hat tatsächlich für irgendwann dies Frühjahr Sturm vorhergesagt«, sagte Gilbert. »Aber meinst du im Ernst, Mr Harrison will isabella Andrews heiraten?«
»Nein«, sagte Anne lächelnd, »er spielt höchstens mit Mr Harmon Andrews Dame. Aber Mrs Lynde meint, Isabella Andrews würde bestimmt heiraten, die sei dies Frühjahr in so blendender Stimmung.« Onkel Abe war ziemlich entrüstet über die Meldung. Er vermutete, der »Beobachter« wollte sich über ihn lustig machen. Erbost stritt er ab, je einen bestimmten Tag für den Sturm genannt zu haben, aber niemand glaubte ihm.
Das Leben in Avonlea ging seinen ruhigen, gleichförmigen Gang weiter. Das »Anpflanzen« war erfolgt; die Verschönerer feierten einen Baumpflanztag. Jedes Mitglied pflanzte eigenhändig fünf Bäume oder beauftragte jemand damit. Da der Verein inzwischen vierzig Mitglieder hatte, waren es im Ganzen zweihundert junge Bäume. Auf den roten Äckern grünte der erste Hafer, Apfelbäume streckten ihre großen blühenden Zweige über die Farmhäuser und die »Schneekönigin« schmückte sich als Braut für ihren Bräutigam. Anne schlief gern bei offenem Fenster und ließ sich den Duft der Kirschbäume übers Gesicht wehen. Sie fand das sehr poetisch. Marilla fand, sie setze ihr Leben aufs Spiel.
»Erntedank sollte im Frühjahr gefeiert werden«, sagte Anne eines Abends zu Marilla, als sie auf der Stufe an der Vordertür saßen und dem Quaken der Frösche lauschten. »Es wäre viel schöner als im November, wenn alles abgestorben ist und ruht. Dann muss man sich erst wieder ins Gedächtnis rufen, dankbar zu sein. Im Mai dagegen kann man gar nicht anders als dankbar sein . . . einfach, weil alles lebt. Ich fühle mich, wie Eva sich im Paradies gefühlt haben muss, bevor der Ärger losging. Ist das Gras dort in der Senke grün oder golden? Mir scheint, Marilla, dass ein Tag wie dieser, an dem Blumen blühen und der Wind schier verrückt vor Wonne nicht weiß, aus welcher Richtung er als Nächstes wehen soll, fast wie ein Tag im Himmel ist.«
Marilla schaute empört und sah sich besorgt um, dass auch ja nicht die Zwillinge in Hörweite waren. Gerade eben kamen sie um die Hausecke.
»Duftet es nicht toll heute?«, sagte
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