Anne in Avonlea
Ich war noch keine Stunde wieder in meinem Haus und ich wünschte, ich hätte die Sache nicht so überstürzt. Aber nachgeben wollte ich auch nicht. Heute weiß ich, dass ich zu viel verlangt hatte. Seine Ausdrucksweise zu bekritteln war einfach dumm. James A. und ich werden jetzt richtig glücklich werden. Ich wüsste nur zu gern, wer der >Beobachter< ist. Ich bin ihm wirklich Dank schuldig.«
Anne behielt es für sich. Mrs Harrison erfuhr nie, dass ihr Dank bei der richtigen Adresse angekommen war. Anne war ziemlich verblüfft über die weit reichenden Folgen dieser albernen »Meldungen«. Sie hatten dazu geführt, dass sich ein Mann und eine Frau aussöhnten und hatten jemanden zum Propheten gemacht.
Mrs Lynde saß in der Küche von Green Gables und hatte Marilla die ganze Geschichte erzählt.
»Nun, wie gefällt dir Mrs Harrison?«, fragte sie Anne.
»Sehr. Sie ist wirklich nett.«
»Ja, das ist sie«, sagte Mrs Rachel mit Nachdruck. »Wie ich gerade schon zu Marilla sagte, ich meine, wir sollten ihr zuliebe über Mr Harrisons Eigenheiten hinwegsehen und ihr das Gefühl geben, dass sie hier zu Hause ist. So, ich muss gehen. Thomas wird schon auf mich warten. Seit Eliza da ist, bin ich nur selten außer Haus gewesen. Die letzten Tage ist Thomas viel besser auf dem Damm, aber ich mag ihn nicht lange allein lassen. Ich habe gehört, Gilbert Blythe hat in White Sands aufgehört. Er wird also wohl im Herbst aufs College gehen?«
Mrs Rachel sah Anne durchdringend an, aber Anne beugte sich über den schlafenden Davy, der auf dem Sofa eingenickt war, und wurde nicht ein bisschen rot. Sie trug Davy ins Bett und drückte ihr ovales mädchenhaftes Gesicht an Davys strohblonden Lockenkopf. Als sie die Treppe hinaufgingen, legte Davy halb im Schlaf einen Arm um Anne, umarmte sie herzlich und gab ihr einen feuchten Kuss.
»Du bist schrecklich lieb, Anne. Milty Boulter hat das heute auf seine Tafel geschrieben und es Jennie Sloane gezeigt:
>Rosen sind rot, sind rot immerzu,
Zucker ist süß, und so bist auch du.<
Genau das drückt mein Gefühl für dich aus, Anne.«
26 - Hinter der Biegung in der Straße
Thomas Lynde entschlief so sanft und leise, wie er gelebt hatte. Seine Frau war ihm eine geduldige, unermüdliche Krankenpflegerin bis zum Schluss. Manchmal war sie zu ihrem Thomas in seinen gesunden Zeiten ein wenig hart gewesen, wenn er begriffsstutzig oder zu nachgiebig war. Aber als er krank wurde, war keine Stimme leiser, keine Hand sanfter und geschickter, kein Wachen an seinem Bett klagloser gewesen.
»Du warst mir eine gute Frau, Rachel«, sagte er eines Nachts schlicht, als sie bei ihm saß und ihre abgearbeitete Hand seine magere, fahle alte Hand hielt. »Eine gute Frau. Es tut mir Leid, dass ich dich mit so wenig zurücklassen muss. Die Kinder werden sich um dich kümmern. Sie sind klug und tüchtig, genau wie ihre Mutter. Eine gute Mutter... eine gute Frau.«
Dann war er entschlafen. Als am nächsten Morgen über den Tannenwipfeln in der Senke weiß der Morgen dämmerte, ging Marilla leise in den Ostgiebel und weckte Anne.
»Anne, Thomas Lynde ist gestorben. Der Dienstjunge hat eben Bescheid gegeben. Ich gehe gleich zu Rachel.«
Am Tag nach Thomas Lyndes Beerdigung wanderte Marilla mit einem seltsam gedankenverlorenen Blick auf Green Gables umher. Hin und wieder sah sie Anne an, so als wollte sie etwas sagen, dann schüttelte sie den Kopf und machte den Mund wieder zu. Nach dem Tee besuchte sie Mrs Rachel. Als sie wiederkam, ging sie in den Ostgiebel, wo Anne Schulhefte korrigierte.
»Wie geht es Mrs Lynde heute?«, fragte Anne.
»Sie ist ruhiger und gelassener«, antwortete Marilla und setzte sich auf Annes Bett - was ihre ungewöhnliche innere Unruhe verriet, denn in Marillas Vorstellung von Haushaltsführung war es unverzeihlich, sich auf ein gemachtes Bett zu setzen. »Aber sie ist sehr allein. Eliza musste heute nach Hause zurückkehren. Ihr Sohn ist krank, sie konnte nicht länger bleiben.«
»Wenn ich hiermit fertig bin, laufe ich hinüber und plaudere ein Weilchen mit Mrs. Lynde«, sagte Anne. »Ich wollte eigentlich ein bisschen Latein lernen, aber das kann warten.«
»Gilbert Blythe wird im Herbst wohl aufs College gehen«, sagte Marilla plötzlich. »Würdest du auch gern gehen, Anne?«
Anne schaute verwundert auf.
»Sicher, Marilla. Aber es ist ausgeschlossen.«
»Es lässt sich schon machen. Ich fand schon immer, du solltest gehen. Der Gedanke, dass du meinetwegen darauf
Weitere Kostenlose Bücher