Anne in Avonlea
die ihr in den vergangenen zwei Jahren so ans Herz gewachsen waren und die sie durch ihre Begeisterung zu etwas Schönem und Freudigem gemacht hatte. Sie würde die Schule aufgeben müssen - und sie hatte alle ihre Schüler gern, auch die dummen und ungezogenen. Sie brauchte nur an Paul Irving zu denken und sie fragte sich, ob Redmond sie überhaupt reizen konnte.
»Ich habe in den letzten Jahren viele kleine Wurzeln geschlagen«, erzählte Anne dem Mond. »Wenn ich nun entwurzelt werde, tut das sehr weh. Aber es muss sein, denke ich. Und, wie Marilla sagt, es gibt keinen plausiblen Grund, nicht zu gehen.«
Am nächsten Tag schickte Anne die Kündigung ab. Mrs Rachel nahm nach einem offenen und ehrlichen Gespräch mit Marilla dankbar das Angebot an auf Green Gables zu wohnen. Den Sommer über jedoch wollte sie in ihrem Haus bleiben. Die Farm würde erst im Herbst verkauft werden, dafür gab es noch etliche Absprachen zu treffen.
»Ich wollte nie so weit ab von der Straße wohnen«, sagte sie seufzend zu sich. »Aber so aus der Welt, wie es mir immer vorkam, ist Green Gables auch wieder nicht. Anne hat viele Freunde und die Zwillinge bringen Leben ins Haus. Überhaupt würde ich lieber am Brunnengrund leben, als aus Avonlea Weggehen.«
Diese zwei Beschlüsse verbreiteten sich in Windeseile und verdrängten Mrs Harrison als Thema Nummer eins von der Tagesordnung. Viele schüttelten den Kopf über Manilas überstürzte Entscheidung, Mrs Rachel bei sich aufzunehmen. Die Leute meinten, die beiden würden nicht miteinander auskommen. Sie hätten beide »ihren eigenen Kopf«. Es wurden jede Menge düstere Vorhersagen gemacht, wovon sich die beiden jedoch nicht beirren ließen. Sie hatten sich klar und entschieden hinsichtlich ihrer zukünftigen Pflichten und Rechte geeinigt und wollten sich auch daran halten.
»Ich mische mich nicht in deine Angelegenheit ein und du dich nicht in meine«, hatte Mrs Rachel bestimmt gesagt. »Was die Zwillinge angeht, tue ich gern alles, was in meinen Kräften steht. Aber auf Davys Fragerei lasse ich mich nicht ein. Ich bin kein Lexikon und auch keine Rechtsgelehrte, die sich in allen Tricks und Kniffs auskennt. In dem Punkt wird Anne dir fehlen.«
»Manchmal sind Annes Antworten fast so merkwürdig wie Davys Fragen«, sagte Marilla trocken. »Die Zwillinge werden sie vermissen, ohne Zweifel. Aber sie kann nicht ihre Zukunft Davys Wissensdurst opfern. Ich kann seine Fragen nicht beantworten und sage ihm nur, Kinder müssen aus sich selbst heraus lernen. So wurde ich großgezogen und der Weg war auch nicht schlechter als diese neumodischen Methoden der Kindererziehung.«
»Hm, Annes Methoden scheinen bei Davy ganz gut funktioniert zu haben«, sagte Mrs Lynde lächelnd. »Er ist wie umgewandelt.«
»Er ist nicht durch und durch schlecht«, räumte Marilla ein. »Ich hätte nie gedacht, dass ich diese Kinder je so gern haben würde. Davy kann einen ganz schön auf Trab halten. Dora dagegen ist ein artiges Kind, aber sie ist... na ja, ein bisschen ...«
»Langweilig? Genau«, ergänzte Mrs Rachel. »Wie ein Buch, in dem eine Seite der ändern gleicht.«
»Aus Dora wird eine gute, verlässliche Frau, aber sie wird niemals das Meer entflammen. Die Sorte Mensch kann man gut um sich haben, auch wenn sie nicht so interessant ist wie die andere Sorte.«
Gilbert Blythe war vielleicht der Einzige, der Annes Kündigung mit ungetrübter Freude aufnahm. Für ihre Schüler war es die reinste Katastrophe. Annetta Bell brach auf dem Nachhauseweg in Tränen aus. Anthony Pye focht ohne ersichtlichen Grund regelrechte Schlachten gegen zwei andere Jungen, um sich so Erleichterung zu verschaffen. Barbara weinte die ganze Nacht lang. Paul Irving sagte trotzig zu seiner Großmutter, sie brauche gar nicht damit zu rechnen, dass er die nächsten Wochen seinen Porridge anrühren würde.
»Ich kann nicht, Großmutter«, sagte er. »Ich bringe nicht einen Bissen hinunter. Es ist, als hätte ich einen riesigen Kloß im Hals. Auf dem Nachhauseweg von der Schule hätte ich am liebsten geheult, wenn Jake Donnell mich nicht beobachtet hätte. Ich glaube, ich werde heute Abend im Bett weinen. Das sieht man morgen meinen Augen doch nicht an, nicht wahr? Es wäre eine große Erleichterung. Porridge jedenfalls kann ich nicht essen. Ich brauche meine ganze Kraft, um das durchzustehen, Großmutter. Da habe ich keine Kraft mehr übrig, um mich noch mit dem Porridge auseinander zu setzen. Oh, Großmutter, ich weiß nicht,
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