Anne in Avonlea
was ich tun soll, jetzt, wo meine liebe Lehrerin weggeht. Milty Boulter sagt, er gehe jede Wette ein, dass Jane Andrews die Stelle bekommt. Miss Andrews mag ja ganz nett sein. Aber von Sachen, wie Miss Shirley sie versteht, hat sie keine Ahnung.«
Auch Diana sah die Sache sehr düster.
»Nächsten Winter wird es hier schrecklich einsam sein«, sagte sie traurig eines Abends in der Dämmerung, als die Mädchen im Ostgiebel hockten und sich unterhielten. Das Mondlicht fiel zart und silbern durch die Kirschzweige und erfüllte den Ostgiebel mit einem weichen, traumgleichen Glanz. Anne saß in dem niedrigen Schaukelstuhl am Fenster, Diana mit untergeschlagenen Beinen auf dem Bett. »Du und Gilbert seid nicht mehr da und die Allans auch nicht. Man hat Mr Allan die Stelle in Charlottetown angeboten. Er will sie annehmen. Es ist einfach schrecklich. Die Stelle hier wird wohl den ganzen Winter über unbesetzt bleiben und wir müssen endlos vielen Bewerbern lauschen, wovon die Hälfte sowieso nichts taugt.«
»Hoffentlich berufen sie nicht Mr Baxter aus East Grafton«, sagte Anne bestimmt. »Er möchte gern die Stelle haben, aber er hält immer so düstere Predigten. Mr Bell sagt, er sei ein Geistlicher der alten Schule. Aber Mrs Lynde meint, er leide einzig und allein an Verdauungsstörungen. Seine Frau ist scheinbar keine gute Frau. Mrs Lynde sagt, wenn ein Mann von drei Wochen zwei Wochen lang nichts als Sauerbrot zu essen bekommt, könnte er ja gar nicht richtig ticken. Mrs Allan zieht ungern von hier weg. Alle wären vom ersten Tag an, als sie als junge Braut hierher kam, so nett zu ihr gewesen. Ihr wäre zumute, als würde sie uralte Freunde zurücklassen. Außerdem, weißt du, ist da das Grab ihres Babys. Sie mag ihr Kind gar nicht zurücklassen. Es war ein so niedliches kleines Wurm, erst drei Monate alt. Bestimmt würde es seine Mutter vermissen. Obwohl sie es natürlich besser weiß und das auch nie Mr Allan gegenüber sagen würde. Sie hat erzählt, dass er fast jeden Abend durch den Birkenwald hinter dem Pfarrhaus zum Friedhof gegangen ist und dem Baby ein Schlaflied gesungen hat. Das hat sie mir an dem Abend erzählt, als ich ein paar von den ersten wilden Rosen auf Matthews Grab gelegt habe. Ich habe ihr versprochen, solange ich in Avonlea bin, würde ich Blumen auf das Grab ihres Kindes legen, und wenn ich fort bin, würde bestimmt. .. «
» . . . ich es übernehmen«, vollendete Diana den Satz. »Ja, natürlich. Und dir zuliebe lege ich auch Blumen auf Matthews Grab, Anne.«
»Oh, danke. Ich wollte dich schon darum bitten. Auf Hester Grays Grab auch? Bitte vergiss ihres nicht. Verstehst du, ich habe so oft an sie gedacht und von ihr geträumt, dass sie mir, so eigenartig es sein mag, wirklich vorkommt. Ich stelle sie mir in dem kühlen, stillen, grünen Gärtchen vor. Ich bilde mir ein, wie ich eines Abends im Frühling zur verzauberten Stunde zwischen Tag und Nacht dort hinhusche und auf Zehenspitzen so leise den Buchenhügel hinaufgehe, dass meine Schritte ihr keine Angst einflößen. Dann würde ich den Garten vorfinden, wie er früher war - voller Narzissen, wilder Rosen und das winzige Haus dahinter voller Weinranken. Hester Gray mit ihren freundlichen Augen würde da sein, der Wind würde durch ihr dunkles Haus streichen. Sie würde umhergehen, mit den Fingerspitzen die Narzissenkelche berühren und den Rosen Geheimnisse zuflüstern. Ich würde ganz leise auf sie zugehen, die Hände ausstrecken und sagen: >Liebe Hester Gray, darf ich deine Spielkameradin sein, weil ich die Rosen auch mag?< Sie würde sich auf die alte Bank setzen. Wir würden ein wenig plaudern, uns etwas ausmalen oder einfach nur still dasitzen. Dann würde der Mond aufgehen. Ich würde mich umschauen - aber da gäbe es keine Hester Gray, nicht das von Weinreben berankte Haus und keine Rosen, sondern nur einen alten Garten voller Narzissen im Gras. Der Wind würde sachte durch die Kirschbäume streichen. Und ich würde nicht wissen, ob es wirklich gewesen war oder ob ich das alles nur geträumt hatte.«
Diana kletterte höher und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Kopfende des Bettes. Wenn einem die Gefährtin der Zauberstunde der Dämmerung solche gespenstischen Dinge erzählte, war man sich selbst nicht mehr sicher, ob hinter einem nicht doch etwas war.
»Ich fürchte, der D.V.V. wird einschlafen, wenn Gilbert und du fort seid«, bemerkte sie traurig.
»Ach was, keine Angst«, sagte Anne flink und kehrte aus dem Traumland
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