Anne in Avonlea
verzichtest, belastet mich.«
»Aber, Marilla, ich habe es nicht einen Augenblick bedauert, zu Hause zu bleiben. Ich war so glücklich. Die zwei vergangenen Jahre waren einfach herrlich.«
»0 ja, das weiß ich schon. Aber das ist nicht der Kern der Sache. Du solltest dich weiterbilden. Du hast genügend Ersparnisse, die für das erste Jahr in Redmond reichen. Die Zinsen würden für das zweite Jahr reichen, du könntest Stipendien gewinnen.«
»Ja, aber es geht nicht, Marilla. Deine Augen haben sich zwar gebessert, aber ich kann dich mit den Zwillingen nicht allein sitzen lassen. Man muss ständig ein Auge auf sie haben.«
»Ich würde ja nicht allein mit ihnen sein. Das ist der Punkt, den ich mit dir besprechen will. Ich habe mich heute lange mit Rachel unterhalten, Anne, es geht ihr in vielerlei Hinsicht gar nicht gut. Sie hat nicht viel Geld. Vor acht Jahren haben sie eine Hypothek auf die Farm aufgenommen, um dem jüngsten Sohn im Westen einen Neubeginn zu ermöglichen. Seither haben sie gerade die Zinsen abbezahlen können. Dann hat natürlich Thomas’ Krankheit eine Menge Geld verschlungen. Die Farm muss verkauft werden. Rachel meint, bis alle Rechnungen beglichen sind, wird kaum noch etwas übrig sein. Sie wird die Farm verlassen und zu Eliza ziehen müssen. Der Gedanke, aus Avonlea weg zu müssen, bricht ihr das Herz. Eine Frau in ihrem Alter mache nicht mehr so leicht neue Bekanntschaften. Als sie mir das erzählte, Anne, ging mir durch den Kopf, dass ich sie fragen könnte, hier bei mir zu wohnen. Aber bevor ich es ihr anbiete, wollte ich es mit dir bereden. Wenn Rachel hier wohnen würde, könntest du aufs College gehen. Wie findest du das?«
»Das kommt mir vor, als hätte mir jemand ... den Mond vom Himmel geholt. . . und ich weiß nicht... was ich damit anfangen soll«, sagte Anne wie benommen. »Aber was Mrs Lynde angeht, das musst du entscheiden, Manila. Meinst du ... bist du sicher... du willst es? Mrs Lynde ist eine herzensgute Frau und nette Nachbarin, aber . .. aber. ..«
»Aber sie hat ihre Fehler, wolltest du sagen?Ja, gewiss. Doch ich würde noch viel eher schlimmere Fehler hinnehmen können, als Rachel aus Avonlea Weggehen zu sehen. Ich würde sie schrecklich vermissen. Sie ist meine einzige enge Freundin hier am Ort. Ohne sie wäre ich verloren. Seit funfundvierzig Jahren sind wir Nachbarinnen und hatten nie Streit - obwohl es kurz davor war, als du damals auf Mrs Rachel losgingst, weil sie dich ein hässliches, rothaariges Mädchen nannte. Erinnerst du dich, Anne?«
»0 ja«, sagte Anne reuevoll. »So was vergisst man nicht. Wie ich die arme Mrs Rachel in dem Augenblick gehasst habe!«
»Und dann deine >Entschuldigung<. Naja, du warst wirklich eine Nervensäge, Anne. Ich wusste einfach nicht, wie ich dich anpacken sollte. Matthew verstand das besser.«
»Matthew verstand alles«, sagte Anne sanft, wie sie stets von ihm sprach.
»Nun, jedenfalls konnte die Sache bereinigt werden, sodass Rachel und ich nicht aneinander rasselten. Wenn zwei Frauen unter einem Dach nicht miteinander auskommen, liegt das ohnehin meist daran, dass sie gemeinsam in der Küche herumfuhrwerken und einander in die Quere kommen. Würde Rachel also herkommen, könnte sie im Nordgiebel ihr Schlafzimmer einrichten und das Gästezimmer als Küche. Das Gästezimmer brauchen wir sowieso nicht. Sie könnte ihren Herd dort aufstellen und die Möbel, die sie behalten will. Sie könnte es sich richtig gemütlich machen und wäre unabhängig. Natürlich würde sie genug zum Leben haben - dafür würden ihre Kinder sorgen. Ich würde ihr nur ein Dach über dem Kopf zur Verfügung stellen. Ja, Anne, was mich angeht, mir würde es gefallen.«
»Dann frage sie«, sagte Anne sofort. »Mir würde es auch Leid tun, wenn Mrs Rachel fortginge.«
»Wenn sie einverstanden ist«, fuhr Marilla fort, »kannst du gut aufs College gehen. Sie leistet mir Gesellschaft und erledigt für die Zwillinge, was ich nicht tun kann. Also gibt es keinen plausiblen Grund, weshalb du nicht gehen könntest.«
An dem Abend stand Anne lange am Fenster und dachte nach. Freude und Bedauern kämpfte in ihr. Sie war schließlich doch, plötzlich und unerwartet, zur Biegung ihrer Straße gelangt. Das College lag hinter der Biegung, mit hundert regenbogenfarbigen Hoffnungen und Träumen. Aber Anne war sich auch darüber im Klaren, dass sie viel Schönes hinter sich ließ, wenn sie um die Biegung ging - all die einfachen Pflichten und die Freundschaften,
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