Anne in Kingsport
werdet euch sicher noch die ganze Nacht lang etwas zu sagen haben«, sagte sie lächelnd, als die Mädchen nach oben gingen.
»Ja«, stimmte Anne fröhlich zu, »aber vorher bringe ich Davy ins Bett. Er besteht darauf.«
»Da kannste Gift drauf nehmen«, sagte Davy, als sie den Flur entlanggingen. »Ich möchte jemandem meine Gebete aufsagen. Alleine zu beten macht keinen Spaß.«
Doch machte Davy, als er in sein graues Flanellnachthemd geschlüpft war, keinerlei Anstalten, endlich mit dem Beten anzufangen. Er stand barfuß vor Anne, strich mit einem Fuß über den anderen und sah unentschlossen drein.
»Komm, mein Lieber, knie dich hin«, sagte Anne.
Davy ging auf sie zu und vergrub seinen Kopf in Annes Schoß. »Anne«, sagte er mit gedämpfter Stimme, »mir ist nicht nach Beten. Schon seit einer Woche geht das so. Ich . . . ich habe gestern Abend nicht gebetet und den Abend davor auch nicht.«
»Warum denn nicht?«, fragte Anne sanft.
»Du ... du wirst bestimmt nicht böse, wenn ich es dir sage?«, flehte Davy.
Anne nahm Davy auf die Knie und schmiegte seinen Kopf an ihren Arm.
»Bin ich etwa schon mal >böse< geworden, wenn du mir irgendwelche Sachen anvertraut hast, Davy?«
»N-n-n .. . ein, noch nie. Aber bestimmt bist du dann traurig und das ist noch viel schlimmer. Du wirst ganz traurig sein, wenn ich dir das erzähle, Anne - und du wirst dich für mich schämen.«
»Hast du was angestellt, Davy, ist es darum?«
»Nein - jedenfalls noch nicht. Aber ich hab was vor.«
»Na, was denn?«
»Ich ... ich will ein schlimmes Wort sagen, Anne«, stieß Davy mit gewaltiger Anstrengung hervor. »Ich hab es letzte Woche Mr Harrisons Burschen sagen hören, und seitdem will es mir dauernd herausrutschen - sogar wenn ich bete.«
»Sag’s schon, Davy.«
Davy hob erstaunt seinen roten Kopf.
»Aber Anne, es ist ein schrecklich schlimmes Wort.«
»Sag’s!«
Davy sah sie erneut und ungläubig an, dann sagte er es mit leiser Stimme. Anschließend verbarg er sein Gesicht.
»O Anne, ich sag es auch nicht wieder - nie mehr. Ich will es gar nicht noch einmal sagen. Ich wusste, es ist ein schlimmes Wort, aber ich hatte nicht gedacht, dass es so ... so ... dass es so schlimm ist, hatte ich nicht gedacht.«
»Ich bin sicher, dass du es nicht noch mal tust. Und an deiner Stelle würde ich mich mit Mr Harrisons Burschen nicht mehr abgeben.«
»Er kann einem aber sagenhafte Kriegsschreie beibringen«, sagte Davy mit leichtem Bedauern.
»Aber du willst doch nicht, Davy, dass es in deinem Kopf nur so wimmelt von schlimmen Ausdrücken, oder?«
»Nein«, sagte Davy mit vor Selbstprüfung ganz eulenartig verdrehten Augen.
»Dann gib dich nicht mit Leuten ab, die solche Ausdrücke gebrauchen. Meinst du, du kannst jetzt beten, Davy?«
»Ja«, sagte Davy und kniete sich flink hin, »jetzt geht es.« Anne und Diana erzählten einander noch bis tief in die Nacht alles, was es zu berichten gab. Beim Frühstück jedoch sahen beide trotzdem frisch und strahlend aus. Bisher hatte es noch nicht geschneit, aber als Diana auf dem Nachhauseweg die alte Holzbrücke überquerte, fielen die ersten weißen Flocken auf Feld und Wald. Bald waren die fernen Hänge und Flügel in einen weißen Schleier gehüllt. Also gab es doch noch eine weiße Weihnacht und es wurde ein wunderschöner Tag. Am Vormittag trafen Briefe und Geschenke von Miss Lavendar und Paul ein. Anne öffnete sie in der freundlichen Küche von Green Gables, die, wie Davy es nannte, mit »feinen Gerüchen« angefüllt war.
»Miss Lavendar und Mr Irving sind in ihr neues Haus eingezogen«, berichtete Anne. »Miss Lavendar ist rundum glücklich, das spüre ich am ganzen Tonfall ihres Briefes. Sie bittet mich, in den Ferien einmal hinüber nach Echo Lodge zu gehen, einmal durchzuheizen und durchzulüften und nachzusehen, ob die Polstermöbel nicht schimmeln. Ich werde Diana fragen, ob sie nächste Woche einmal mit mir hingeht. Den Abend können wir bei Theodora Dix verbringen. Ich möchte Theodora gern wieder sehen. Trifft sie sich übrigens noch mit Ludovic Speed?«
»Es geht das Gerücht«, sagte Marilla, »und es wird wohl etwas dran sein. Aber die Leute haben die Hoffnung aufgegeben, dass die Verbindung noch zu einem guten Ende führt.«
»Ich an Theodoras Stelle würde ihm ein bisschen auf die Füße treten«, sagte Mrs Lynde. Und keiner der anderen hatte den leisesten Zweifel, dass sie das in der Tat getan hätte.
Dann war da noch ein typischer schnell
Weitere Kostenlose Bücher