Anne in Kingsport
lieb von dir - irgendwann einmal würde ich liebend gern mitkommen. Aber diesmal geht es nicht - ich muss einfach nach Hause. Du ahnst gar nicht, wie ich mich nach zu Hause sehne.«
»Aber in Avonlea wird sich doch eh nichts Großes abspielen«, sagte Phil spöttisch. »Es werden schätzungsweise ein, zwei Nähzirkel stattfinden und all die alten Klatschbasen werden dir gute Ratschläge geben oder sich hinter deinem Rücken das Maul über dich zerreißen. Du wirst vor Langeweile umkommen, Kindchen.«
»In Avonlea?«, sagte Anne höchst amüsiert.
»Tja, wenn du mit zu mir kommen würdest, könntest du eine phantastische Zeit verleben. Ganz Bolingbroke würde dir zu Füßen liegen, Anne - wegen deiner Haare und wie du redest und überhaupt! Du bist so ganz anders. Du wärst ein Erfolg auf der ganzen Linie - und ich würde mich in deinem Glanz sonnen. Komm doch mit, Anne.«
»Das Bild, das du da malst, Phil, ist ja sehr reizvoll, aber ich male eines, das mit deinem gut mithalten kann. Ich verbringen die Ferien zu Hause in einem alten Farmhaus auf dem Lande. Es steht in einem Garten mit Apfelbäumen, unterhalb davon verläuft ein Bach und dahinter beginnt ein dichter Tannenwald. In der Nähe gibt es einen Teich, der jetzt sicher grau und düster daliegt. Im Haus werden zwei alte Damen auf mich warten: die eine groß und dünn, die andere klein und dick; und ein Zwillingspärchen wird dort sein, das Mädchen ein Musterkind, der Junge ein »Ausbund an Schreckens wie Mrs Lynde immer sagt. Über der Veranda liegt mein kleines Zimmer mit einem großen, dicken, herrlichen Federbett, das einem fast luxuriös vorkommt nach diesem Bett in der Pension. Na, ist das nichts, Phil?«
»Düster«, sagte Phil und verzog das Gesicht.
»Oh, das Wichtigste habe ich vergessen«, sagte Anne sanft. »Die Liebe, Phil - eine treue, zärtliche Zuneigung, wie es sie eben nur zu Hause gibt. Jetzt ist mein Bild ein Meisterwerk, nicht wahr?«
Phil erhob sich leise, schob die Schokoladenschachtel beiseite und legte Anne die Arme um die Schultern.
»Anne, ich wünschte, ich wäre wie du«, sagte sie gerührt. Diana holte Anne am nächsten Abend am Bahnhof von Carmody ab und unter einem sternenübersäten weiten Himmel fuhren sie zusammen nach Hause. Nach der letzten Wegbiegung erblickten sie das strahlend erleuchtete Green Gables. In jedem Fenster brannte eine Lampe, deren Schein gegen den dunklen Hintergrund des Geisterwaldes aufleuchtete wie feuerrote Blüten. Im Hof prasselte ein Freudenfeuer, um das fröhlich zwei Gestalten herumtanzten. Eine der beiden gab einen unheimlichen Schrei von sich, als die Kutsche unter den Pappeln entlang in den Hof gefahren kam.
»Davy hält das für den Kriegsschrei der Indianer«, sagte Diana. »Mr Harrisons Bursche hat es ihm beigebracht und er hat ihn extra für dich zur Begrüßung geübt. Mrs Lynde sagt, es wäre nervenzerfetzend. Bei jeder Gelegenheit schleicht er sich von hinten an sie heran und lässt diesen Schrei los. Er wollte unbedingt auch zu deiner Begrüßung ein Feuer machen. Zwei Wochen lang hat er jeden Tag trockene Zweige aufgeschichtet und Marilla damit genervt, dass sie ihm zum Anzünden etwas Petroleum darauf schüttet. Dem Geruch nach hat sie ihm wohl tatsächlich nachgegeben, obwohl Mrs Lynde bis zuletzt gemeint hat, dass Davy noch sich und alle anderen damit in die Luft jagen würde.«
Inzwischen war Anne aus der Kutsche ausgestiegen und Davy, ganz aus dem Häuschen, schlang die Arme um ihre Knie, während Dora ihre Hand festhielt.
»Ist das nicht ein tolles Feuer, Anne?«, fragte er aufgeregt. »Ich zeig dir mal eben, wie man es anmacht - siehst du die Funken? Hab’s extra für dich gemacht, Anne, vor lauter Freude, dass du nach Hause kommst.«
Die Küchentür ging auf und Marillas magere Gestalt hob sich dunkel gegen das Licht im Haus ab. Sie begrüßte Anne lieber im Dunkeln, aus Angst, man könnte ihr die innere Bewegung ansehen - ihr, der strengen, zurückhaltenden Marilla, die sonst nie Gefühle zeigte. Mrs Lynde stand, ganz die Alte, drall und freundlich hinter Marilla. Wie Anne Phil erzählt hatte, nahm sie hier die Liebe in Empfang, umgab sie und hüllte sie mit ihrer ganzen Wohligkeit ein. Nichts gab es, das man mit dem alten Green Gables vergleichen konnte! Annes Augen leuchteten vor Freude, als sich alle an den überladenen Abendbrottisch setzten. Diana blieb auch die Nacht über. Es war wie in alten Zeiten! Bis Marilla schließlich müde wurde.
»Diana und du, ihr
Weitere Kostenlose Bücher